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Heldinnen an der Schreibmaschine

Rudolf Braune: Das Mädchen an der Orga Privat

Nein, die „Orga Privat“ ist keine Straße in Rom oder Berlin (wie ich Ahnungsloser dachte), sondern eine Schreibmaschine der Nürnberger Bing-Werke – deshalb habe ich das gute Stück extra im Bild mit aufgenommen. Allerdings war im Jahr 1928, in dem der Roman spielt, das Exemplar schon eher ein klappriges Auslaufmodell, vor das die „Neue“ (31) in der Eisenverwertungs-G.m.b.H. zur Einarbeitung gesetzt wird. Am Ende der Geschichte, als sie zu einer kleine „Heldin“ geworden ist, deren Name nicht so wichtig ist, erzählt man sich die Taten des „Mädchen an der Orga Privat“.
Aber langsam. Kurz die Handlung vorgestellt.

Berlin aus einem unverstellten Blick

Irgendwo vom Land, aus einem „kleinen Industrienest (…) im Mitteldeutschland“ (5) stammt Erna und hat es sich in den Kopf gesetzt, in Berlin zurecht zu kommen. Ihr Motiv für den Umzug? – „Die Enge im elterlichen Haus“ (5), da wird es ihr gehen, wie vielen anderen jungen Menschen, die es in Scharen nach Berlin zog, in die große Stadt.
„So sieht Erna Halbe zum erste Mal Berlin“ (5): Lichtzauber, gut angezogene Menschen, schicke Autos, „Shampoo-Reklame“ (27), Essen bei Aschinger, aber auch dunkle Hinterhöfe, finstere Absteigen, Abfallreste auf den Treppen, herrische Arbeitslose … Sie sieht sich selbst im Schaufenster, vergleicht sich mit den eleganten Frauen und wird ein bisschen vom Berlin-Fieber gepackt:  „Geld braucht man dazu (…) Ich muss Geld verdienen (..) , viel, viel mehr“ (13), denn sie hat so wenig.
Dann lernt Erna ihre Kolleginnen bei der Arbeit kennen, läuft mit und fängt an, sich zu befreunden. Immer mehr vertrauen sie der guten Zuhörerin an, bis Erna die wahren Geschichten und handfesten Probleme hinter der netten Fassade der anderen Stenotypistinnen sieht. Eines davon sitzt im Büro, heißt Lortzing, hat eine der Bürodamen geschwängert und sie mit Geld zur Abtreibung genötigt. Trude erkrankt durch den Eingriff, wird gekündigt. Jetzt gehen die Frauen solidarisch, aber ungeordnet in den Streik, verlangen die Wiedereinstellung. Erna wird zu Anführerin in diesem Kampf – man kündigt auch ihr. Trude stirbt und die Frauen geben ihren Kampf auf, haben sich aber viel Achtung in allen Abteilungen der Firma errungen.
Und Erna, deren Freund verhaftet wurde, gilt als „Heldin“. Sie „marschiert ihren Weg“ (141) und wird sich einen neuen Job suchen.

MeToo in der Weimarer Republik

Missbrauch und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zum Thema zu machen, ist für diese Zeit absolut sensationell, und dann auch noch als Solidarität unter weiblichen Angestellten, fast undenkbar und ein Affront gegen die trotz erster Emanzipation extrem männerdominierte Gesellschaft. Der erste Roman des jungen Autors Rudolf Braune verkauft sich. Ein Zeichen für die Aktualität und die Brisanz. Eine Geschichte für viele, die Ähnliches zu erzählen hätten. Metoo in noch etwas anderer Form in der Zeit der Weimarer Republik.
Schon allein deswegen lohnt die Lektüre, aber auch, weil der Roman die unentschuldbare Tat eines Mannes nicht in plumper Weise hochstilisiert, sondern sehr nüchtern und ruhig die Gedanken und Nöte der jungen Frauen, aber auch ihre Unreife, Konkurrenz, Dummheit und Klugheit hervortreten lässt, ja sie als ganz normale Angestellte in den nicht leichten Umständen ihrer Zeit schildert, gut erzählt obendrein. Das hat fast etwas Brillantes.
Wäre da nicht … egal. Ich fange es andersherum an.

Arbeiterroman und Klassenkampf für Angestellte

Rudolf Braune ist ein links orientierte Schriftsteller, der seine Gesinnung nicht verleugnet und in Worten wie „Klassenkampf“, Kampfbericht in der „Roten Fahne“ oder „Arbeiterstolz“ dezent einfließen lässt. Das Thema des Romans ist es sowieso. Ein „Arbeitermädel“, das einen Streik organisiert und sich für Gerechtigkeit einsetzt, „mit gesundem Blut und gutem Hass“ (164) – das ist fast schon die stilisierte Jean d’Arc eines sozialistischen (oder kommunistischen) Ideals.
Als die Nazis ihre Liste für die Bücherverbrennung 1933 – kaum 3 Jahre nach dem Escheinen – erstellen, findet sich Das Mädchen an der Orga Privat darauf.
Weil man die Überschrift Arbeiterroman, oder besser weiblicher Angestelltenroman, über die komplette Handlung setzen könnte, erlebte das Buch im Nachkriegsdeutschland in der DDR eine Renaissance und Würdigung, während es in der Bundesrepublik erst wieder in den letzten Jahren entdeckt wurde.
Ich finde es ehrenwert und sinnvoll, aus der Perspektive der kleinen Angestellten einen Roman zu verfassen und in vielem ja auch sehr gelungen. Aber bei aller sachlichen Schilderung, ist das Ideal dahinter doch so omnipräsent, dass es bei mir nicht nur Positives auslöst.

Romantisierte Neue Sachlichkeit

Die Überschrift ist Quatsch, ein Widerspruch in sich, könnte man denken, wenn man sich auskennt. Denn in der wissenschaftlichen Einordnung der Literatur gilt gerade die Neue Sachlichkeit der 20er Jahre als Abkehr von der romantisch verklärten Sicht. Die Helden kommen von unten, nicht aus Adel oder überpriviligiertem Bürgertum. Beschreibungen der Realität ohne Wertungen stehen im Mittelpunkt. Und ja, Erna Halbe wird als „nüchtern und illusionslos“ (28) dargestellt, mit einem praktischen Geist, „ein kleines Arbeitermädel, trotzig und entschlossen“ (164), die für ihre Rechte kämpft, „mit gesundem Blut und gutem Hass“.
Und was anderes als eine Verklärung des einfachen Menschen ist das? Das Mädchen vom Land zeigt es den im Herzen „kleinbürgerlich“ (138) gebliebenen Stadtpomeranzen, ist durch schlichte Natürlichkeit und ihren unverstellten Verstand überlegen, nutzt diese Vorzüge aber nicht für sich, sondern hilft den anderen und nimmt sogar ihre Entlassung in Kauf, damit es ihren Angestellten-Kolleginnen wohl ergehen möge … Ich finde das schön und edel, aber eben auch ein wenig kitschig, romantische Verklärung inbegriffen.
So sachlich wie der Roman daherzukommen scheint, so sehr überzeichnet Rudolf Braune in aller Ruhe und ohne ausformulierten Pathos das Arbeiter- oder Angestellten-Ideal. Das ist Arbeiterromantik. Mein innerer Kitsch-Kompass hat hier ausgeschlagen, obwohl es faktisch kaum Stellen gibt, die sprachlich in eine sentimentale Richtung driften. Deshalb konnte ich wohl mit
Das Mädchen an der Orga Privat deutlich weniger anfangen als mit Irmgard Keuns Gilgi oder Das kunstseidene Mädchen, die viel widersprüchlichere und unfertigere Charaktere zeigen.
Interessant übrigens, dass sowohl Gilgi als
auch Das Mädchen an der Orga Privat im Präsens gehalten sind und dadurch ein ganz eigene Dynamik entfalten. Wann sich das Präsens als Erzähltempus in Romanen etabliert hat, konnte ich literaturgeschichtlich nicht sicher recherchieren. Das wäre mal noch was. Lange vor den 20ern sicher nicht.

Fazit

Das Kolorit ist wunderbar eingefangen, sachlich und leicht erzählt. Unter MeToo Gesichtspunkten ist das Buch sogar ein hochmodernes Werk. Wenn das etwas stilisierte Arbeiterideal nervt, muss man sich vor Augen halten, dass es für die Zeit der Weimarer Republik noch eine sehr ruhige und völlig unpathetisch Art war, politische Aspekte einfließen zu lassen. Deshalb: Für an der Weimarer Literatur Interessierte ist der kleine Roman aus Berlin über die tapfere Erna Halbe ganz sicher eine feine Lektüre.
Der Autor Rudolf Braune, über den wir tatsächlich wenig wissen, weil er bereits mit 25 Jahren 1932 tödlich verunglückte, hat ein weiteres Buch geschrieben, „Junge Leute in der Stadt“, was ich mir sicher auch noch anschaue.

Rudolf Braune: Das Mädchen an der Orga Privat. Ein kleiner Roman aus Berlin, Jaron Verlag 2022 (1930), 176 Seiten.
Eine schöne Ausgabe mit einem klugen Nachwort von Arnt Cobbers.


Weiterführende Links:

Rudolf Braune auf Wiki
Rezension von LITERATURWEIMAR von Jörg Mielczarek

Alle Berlin-Romane in der Zeit der Weimarer Zeit auf dieser Seite:

 
Margarethe Ludendorff
Adolf Hölzel
Adolf Hölzel
Margarethe von Wrangell
Theordor Heuss: Erinnerungen 1905-1933
Rudolf Braune: Das Mädchen an der Orga Privat
Thomas Ziebula: Der rote Judas
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