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Eine, die das Glück suchte

Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen (1932)

Und ich denke, dass es gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin. Ich denke nicht an Tagebuch – das ist lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe. Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein. (…) Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino – ich sehe mich in Bildern.“(4). „Ich werde ein Glanz …“ (38).

Es begann mit Gilgi

Als Irmgard Keun (1905-1982) 1931 ihr erstes Buch „Gilgi eine von uns“ veröffentlicht, gibt sie an, erst 21 Jahre alt zu sein. Tatsächlich ist sie 25. Warum? Weil wir in ihrer Geschichte einem Mädchen von knapp zwanzig begegnen, in deren Leben wir live dabei sind. Gefühle unmittelbar im Präsens, die Sprache genau wie sie gesprochen wird, Gedanken wie sie ungeschminkt durch den Kopf schießen, ehrliche Beobachtungen ohne Beschönigungen – das wirkt auf den ersten Blick mädchenhaft naiv, ist aber so raffiniert aufgebaut, dass wir viele Zeitprobleme streifen und in philosophische Tiefen abtauchen. Die Autorin selbst ist wie Gilgi und eine von uns, wie die neuen Leiden einer Wertherin, nur dass sich Gilgi nicht umbringt, sondern ihren großen Gefühlen mit Kind im Bauch in die große Welt von Berlin entflieht.

Ich war begeistert von der Dichte und Modernität dieses Schreibstils. Man nennt es „Neue Sachlichkeit“, weil nichts mehr romantisiert, sondern alles präzise beobachtet wird. Aber wie so oft, gibt der literaturgeschichtliche Begriff nicht alles wieder, denn die Intensität und die Unmittelbarkeit, die sich in diesen Werken zeigen, sind gerade nicht „sachlich“, sondern sehr emotional.

Das Aufstreben einer Stenotypistin

Wie Gilgi ist auch Doris Stenotypistin, aber sie ist auf Kriegsfuß mit den Kommas, versucht ihren Chef dezent um den Finger zu wickeln, der es prompt falsch versteht, sie bedrängt und ordentlich eins gegen das Schienbein kriegt. Doris ist nicht auf den Mund gefallen, schreibt ihre Erlebnisse nieder „wie Film“ und will ein „Glanz“ werden. Als sie nach der prompten Entlassung an der Garderobe des Stadttheaters arbeitet, fällt ihr ein „Feh“ – ein edler Eichhörnchenpelz – in die Hand, in den sie sich verliebt und ihre Sehnsucht nach dem unbeschwerten Leben weckt.
Aus Angst, der Diebstahl des teuren Stücks würde zur Anzeige gebracht, flieht sie nach Berlin, wodurch das zweite Werk (1932) von Irmgard Keun in der großen Weltstadt spielt. Unverblümt schildert Doris, wie sie sich in den berühmten Lokalitäten (die fast alle in Curt Morecks Führer genannten wurden) Männer angelt, das Leben in vollen Zügen genießt und ihren Liebhabern bezeichnende Spitznamen gibt wie „roter Mond“, „Danziger Goldwasser“, „der Schöne“, „der Onyx“, der „Kneifer“. „Mein Leben ist Berlin, und ich bin Berlin“ (54) „und es ist eine Freiheit, ich werde ein Glanz“ (55), denkt sie anfangs, doch bei keinem dieser Herren mit Geld wird sie glücklich. Der eine kommt ins Gefängnis, beim anderen die Ehefrau zurück, der dritte schlägt und der letzte ist nur gut und liebt eine andere. Einem armen Blinden zeigt sie Berlin mit ihren Augen, was das Leseerlebnis noch mehr intensiviert. Immer hilft ihrem Lebensgefühl der edle Feh.
Doch irgendwann steht Doris ohne Geld da – „wo ist mein helles Berlin“ (69), fragt sie sich und kämpft ums Überleben, will sich prostituieren, „mit Männern schlafen, viel Geld haben“ (71), sie stürzt ab (Alkohol und „Schnee“) – „die Stadt ist krank“ (70).
Beim „grünen Moos“ (91) strandet Doris abgemagert und depressiv, darf bei ihm wohnen, erholt sich, kommt in die Normalität zurück, verliebt sich – aber er liebt noch seine Frau. Als es ihr besser geht, bringt sie die beiden wieder zusammen, obwohl es ihr schwer fällt. Doris Zukunft ist am Ende ungewiss, aber sie ist mit ihren Gefühlen im Reinen – oder vielleicht ernüchtert, denn: „Auf den Glanz kommt es vielleicht gar nicht so furchtbar an“ (130).

Modernität mit fiesen Tücken

Es ist das Drama der selbstbewussten Frau in den Goldenen Zwanzigern. Doris will aus ihren einfachen und ungebildeten Verhältnissen (Vater arbeitsloser Säufer, Mutter Gardrobistin) heraus, der kleinen Frauenrolle als Stenotypisten oder Fabrikarbeiterin entfliehen, groß herauskommen wie die „Dietrich“ und das mondäne Leben genießen, ein „Glanz“ werden. Doch die einzige Chance führt nur über das Bett von älteren Männern, die es zu etwas gebracht haben. Das ist bitter und zugleich absolut realistisch für diese Zeit. Berlin bietet viel – flimmernde Lichtreklame und noble Lokalitäten führen den Glanz vor Augen, der aber doch nur für Geld zu haben ist, und für Geld muss sich Frau prostituieren … Es ist verrückt, wie zum Verwechseln ähnlich die Einstellung von Doris dem modernen sexuellen Selbstbewusstsein ist, und wie sehr die Lebensumstände sie in brutale sexuelle Abhängigkeit zwingen.
Doris‘ Sehnsucht ist sympathisch, aus heutiger Sicht fast schlicht, und doch für sie unerreichbar: „Ich will mal einen Kaffee mit Musik und ein vornehmes Pfirsich Melba in hocheleganten Bechern – und das geht doch nicht alles von allein, braucht man wieder die Großindustrien und dann kann man ja gleich auf den Strich gehen. Ohne Achtstundentag“ (108).

Näher an dem Gefühl der Zeit wie in dem kunstseidenen Mädchen mit ihrem Feh kann man kaum sein. Das „Märchen von Berlin“ (122) ist wunderbar erzählt, die Handlung schön und grausam, „weil die Zeit wirklich schlecht ist“ (128) – das Schicksal der jungen Frau bleibt offen.
Wenn ich diese beiden Zeitdokumente von Irgard Keun mit neuen Büchern wie  „Die juten Sitten“ von Anna Basener (Goldmann, 2020) vergleiche, die angeblich „ungeschminkt“ und „schmutzig“ die 20 Jahre schildern, dann kann ich nur sagen: Die Originale sind in einer viel lebensechteren Sprache verfasst und mir weit stärker unter die Haut gegangen. Wie ein guter Film im Kino … und das wollte es ja sein.

Und weil es so viele schön-moderne Erkenntnisse gibt, noch zwei Zitate:
„Frauen sind manchmal sinnlich und wollen nur das. (…) Und es ist ja auch keine Schweinerei, weil man ja gleiche Gefühle hatte, und jeder will dasselbe vom andern“ (59).
„Da gibt es so Lokale, da sitzen so Weiber mit steifen Kragen und Schlips und sind furchtbar stolz, dass sie pervers sind, als wenn so etwas nicht eine Gabe wäre, für die keiner was kann“ (101, bezieht sich auf die Dominio-Bar, die auch Curt Moreck, S 142, ausführlich beschreibt!)

Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, Ernst Klett Schulbuch Verlag 2004 (1932), 176 Seiten.
Irmgard Keun: Gilgi eine von uns, Ullstein 2018 (1931), 262 Seiten.

Mit detektivischen Spürsinn endeckt Michael Bienert („Das kunstseidene Mädchen. Irmgard Keuns literarische Schauplätze“, 2020) das Berlin der Autorin – ein tolle Ergänzung.

Alle Berlin-Romane in der Zeit der Weimarer Zeit auf dieser Seite:

 
Margarethe Ludendorff
Adolf Hölzel
Adolf Hölzel
Margarethe von Wrangell
Theordor Heuss: Erinnerungen 1905-1933
Rudolf Braune: Das Mädchen an der Orga Privat
Thomas Ziebula: Der rote Judas
Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland
Volker Weidermann: Das Buch der verbranten Bücher
Sebastian Haffner: Die Geschichte eines Deutschen
Sebastian Haffner: Von Bismarck bis Hitler
Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
Hans Fallada: Kleiner Mann - was nun?
Kurt Tucholsky: Literaturkritik
Paul Gurk: Berlin
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Irmgard Keun: Gilgi eine von uns
Volker Kutscher: Der nasse Fisch
J.C.Vogt: Anarchie Deco
Curt Moreck: Ein Führer durch das lasterhafte Berlin
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