
Ein Stuttgarter Kommunist
„Die schlaflosen Nächste des Eugen E.“
Der waschechte Schwabe Eugen Eberle aus dem Stuttgarter Westen engagierte sich in der Weimarer Zeit und im 3. Reich für die Arbeiterklasse. Ein interessanter Mann.
Auf 40 PS bei 80 km/h Höchstgeschwindigkeit brachte es der Adler Standard 6, mit dem sich Clara Eleonore Stinnes 1927 auf den Weg machte, um den Erdkreis auf wohl gewählten Continental Reifen zu umrunden. Die Reise ist zuallererst ein Automobilereignis und dahinter noch viel mehr – sonst würde ich nicht so begeistert darüber berichten.
Die Situation
In Deutschland war der Verkehr schon auf fast 200.000 dieser Kraftstoff getriebenen Pferdestärken angestiegen. Henry Ford im Land der großen Fortschritte hatte von seinem Model T (Tin Lizzie) bis zu diesem Jahr bereits 15 Millionen vom Band gelassen – global betrachtet besaß ein Mensch von hundert ein Automobil – dieses Fortbewegungsmittel war eindeutig im Begriff die ganze Welt zu erobern. Nur wusste die Welt noch nichts von ihrem fraglichen Glück und bot den Reisenden auf weiten Strecken nur Feld- und Matschwege für Ochsenwagen und Pferde an, wenn überhaupt. Wie zum Beginn der Elektromobilität war das Tanken Ende der Zwanziger noch die zweite Herausforderung, die logistisch zu meistern war. Und auch die inzwischen selbstverständliche Pannenwerkstatt um die nächste Ecke war damals oft hunderte Kilometer bis unendlich weit entfernt.
Das Besondere
Mich persönlich interessieren die Details einer Erfolgsgeschichte des Automobils nur beiläufig, aber wie diese 26-jährige Frau ihre Abenteuerfahrt organisiert und zwei Jahre später mit 46.758 Kilometern auf dem Tachostand nach Berlin zurückkehrt, hat mich schwer beeindruckt. Mehr sogar noch, wie Clärenore Stinnes die endlosen Strapazen und Schwierigkeiten mit überall geschlossenen Freundschaften und willig gewährter Hilfe überwindet. Und am allermeisten, dass die Deutsche den verschiedenen Menschen und Kulturen mit offenem und wenig wertendem Geist begegnet ist und dabei gemeinsam mit ihrem schwedischen Reisegefährten Carl Söderström ein kleines Stück ethnographische Dokumentation der Endzwanziger schreibt.
Die Quellen
1929 erscheint Clärenore Stinnes Reisebericht „Im Auto durch zwei Welten“, 1931 kommen die Filmaufnahmen von Carl-Axel Söderström als Tonfilm (Clärenore spricht erklärende Texte) in das deutsche Kino. Ergänzt werden diese Quellen durch das Tagebuch des Schweden (illustriert mit zahlreichen Fotos), das nach seinem Tod entdeckt und 1981 von Michael Kuball mit ein paar Zusatzmaterialien (Zeitungsartikel, Interviews) herausgegeben wurde.
Der ursprüngliche Film scheint nicht öffentlich zugänglich, dafür bietet der Dokumentar-Spielfilm von 2008/09 „Fräulein Stinnes fährt um die Welt“ (mit Sandra Hüller, Regie Erica von Moeller, Drehbuch Sönke Lars Neuwöhner) einige Szenen aus dem Original und interpretiert die Reise neu und durchaus anschaulich. Eine 45-minütige Zusammenstellung der Aufnahmen hat Michael Kuball im Auftrag des bayrischen Rundfunks (Clärenore Stinnes: der Film, 1985?) erstellt. Ebenso existiert ein interessantes Interview mit der Hauptakteurin aus späten Jahren (Clärenore Stinnes: das Interview).
In meinem Überblick beziehe ich mich fast ausschließlich auf die beiden Bücher als Quelle. Ich werde dabei nicht chronologisch vorgehen, sondern versuchen, die thematischen Zusammenhänge herzustellen. Und ja … der Artikel ist sehr, sehr lang geraten, weil ich so unendlich viel spannende Infos und Schilderungen gefunden habe, die ich nicht übergehen konnte. Immerhin sind es 500 Seiten dichten Abenteuers, die hier wiedergegeben werden müssen.
Fast vergessen
Warum ich „Eine fast vergessene Sensation“ getitelt habe? – Die beiden wurden 1929 in der Öffentlichkeit und Presse gefeiert, haben einen vom Publikum beachteten Film daraus gemacht, sich dann aber komplett aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, sich nicht weiter im Ruhm gesonnt und als nächstes und dauerhaftes Abenteuer ein Landgut in Schweden bewirtschaftet. Andere Zeitgenossen mit vergleichbaren Filmerfolgen wie Reni Riefenstahl oder Walther Ruttmann konnten von der süßen Droge des Erfolges nicht mehr lassen. Nicht so Stinnes und Söderström, deren sensationelle Reise erst in neueren Tagen wiederentdeckt wurde.
Reich, aber unabhängig
1901 wird Clara Eleonore Stinnes geboren, das dritte von sieben Kindern. Der Vater ist niemand geringeres als der größte Industrielle Deutschlands seiner Zeit, Hugo Stinnes, der sich besonders in der großen Inflation ein beispielloses Wirtschaftsimperium zusammengekauft hat. Ab 1920 nimmt er durch den Erwerb der Deutschen Allgemeinen Zeitung und als Mitglied der DVP (Deutsche Volkspartei) maßgeblich Einfluss auf die Politik, sein Parteigenosse ist der Reichskanzler und langjährige Außenminister Gustav Stresemann, allerdings steht Hugo Stinnes am rechten Rand mit einem lauten Ruf nach weniger Arbeiterrechten und einem starken Mann, einem „Diktator“ (Ullrich, 172). Direkt nach der Schule begleitet Clara Eleonore ihren Vater als Assistentin mehrere Jahre in vielen Belangen bis zu seinem frühen Tod.
Ich hätte mir aufgrund dieser familiären Voraussetzungen vorgestellt, einer verwöhnten, konservativen jungen Frau mit rechts-nationalem Gedankengut zu begegnen. Sie selbst beschreibt sich als „in Freiheit und bei Jungenspielen“ aufgewachsen, kein typisches Mädchen, das sich um weibliche Aufgaben drückte und stattdessen ihren Karl May Helden „Old Shatterhand“ und dem „Apachenhäuptling Winnetou“ (Sti 19) nacheifert, von kriegerischen Taten träumt. Vom realen großen Krieg dann aller „Illusionen“ (Sti 20) beraubt, „über Nacht vom Kind zur Erwachsenen“ geworden, tritt sie ins Berufsleben ein, „teils im Auftrag“ ihres Vaters, und eignet sich das an, was sie die „Energie des Durchhaltens“ (Sti 20) nennt.
Mit dem Tod von Hugo Stinnes im April 1924 geht das Erbe komplett an ihre Brüder – Clärenore ist raus aus dem Familienunternehmen. Kurz darauf schlägt ihr ein befreundeter Direktor als Werbeaktion für das Werk die Teilnahme an einem Autorennen vor. Sie nimmt unter anderem Namen (Frau Lehmann) teil und gewinnt. „Diesem Rennen folgten viele andere“ (Sti 21) und eines der berühmtesten, die „allrussische Prüfungsfahrt“ – „Leningrad-Moskau-Tiflis-Moskau“ gewinnt sie 1925 als einzige weibliche Teilnehmerin (13 Nationen, 52 Fahrer, wenig Straßen). In Automobilkreisen ist sie inzwischen berühmt.
Die Welt kennenlernen
Gewohnt eigenständig zu agieren, entsteht in Fräulein Stinnes ein verrückter, aufgrund ihrer Geschichte wiederum fast naheliegender Wunsch: Die Planung einer Fahrt, welche „die Fähigkeiten eines modernen Fahrzeuges zeigen“ (Sti 22) sollte. Die deutschen Adler-Werke stellten einen brandneu gefertigten → „Standard 6“ in Aussicht, eines der ersten europäisches Autos mit hydraulischen Bremsen und einer aus Stahlblech hergestellten Karosserie.
Das persönliche „Hauptinteresse“ der jungen Frau lag „im Kennenlernen der Länder und Völker“ (Sti 22). Die Reiselust war nach den schweren Jahren in Deutschland ein weit verbreitetes Phänomen, wie der Weltvagabund, Literat und Zeitgenosse Stefan Zweig bestätigt: „Nie sind die Menschen so viel gereist wie in diesen Jahren.“ „Wir alle hatten das Gefühl, man müsse nachholen, was die schlimmen Jahre (…) gestohlen; (…) man wanderte, man entdeckte Europa, die Welt“ (Zweig, 372). Zumindest wer es sich leisten konnte.
Clärenore war nach eigenen Angaben trotz reicher Abstammung mittellos, aber vorzüglich mit der Wirtschaft vernetzt, so dass sie neben dem Auto auch das stolze Budget von 100.000 Reichsmark als Sponsorengeld eintreiben konnte. Ein halbes Jahr hat sie geplant und ihre Verbindungen genutzt, um Papiere und Empfehlungsschreiben zu erhalten, die ihre freie Fahrt über die Landesgrenzen der unterschiedlichsten politischen Systeme hinweg gewährleisten sollten. Treibstoffdepots mussten überall auf dem Weg angelegt werden. Und nicht zuletzt war die Route auszutüfteln:
Von Frankfurt Richtung Süden durch Mitteleuropa und die Türkei nach Bagdad, dann nördlich über Tiflis nach Moskau, ostwärts durch Sibirien in die Mongolei, quer durch China, übergesetzt nach Japan, Hawaii, Los Angeles, Panama, von Lima durch die Anden nach Buenos Aires, mit dem Schiff nach Vancouver, durch die USA und von Le Havre nach Berlin.
23 Länder. Das ist mehr als einmal um die Welt, mehr als die 40.000 Kilometer des Erdumfangs. Gedacht war die Reise als Unternehmen für ein Jahr, begleitet von einem Techniker-Team im Lastwagen und einem Kameramann. Zurückgekommen ist Fräulein Stinnes erst zwei Jahre später nur mit dem schwer ramponierten Standard 6 und Söderström, der inzwischen ihr Reisepartner und Mechaniker geworden war. Vieles hat nicht so geklappt wie geplant, doch das Glück hat die junge Frau nie ganz verlassen.
Die Zusammensetzung des Teams ist selbst für die zweite Hälfte der Zwanziger skandalös. Eine Frau mit drei Männern, die sich nur wenige Tage vor dem Start der Reise kennenlernen. Und das Ende: nur Söderström und Stinnes ertragen die Entbehrungen, sie wachsen zusammen.
Kameramann, Partner und …
Das Abenteuer des Fräulein Stinnes hat sage und schreibe ein romantisches Ende. Clärenore heiratet 1930, gut ein Jahr nach der Fahrt, ihren treuen Begleiter Carl-Axel Söderström – klingt nach mega Stoff für eine Romanze. Wer jedoch auf eine amouröse Geschichte hofft, wird leider enttäuscht. Zwischen den Zeilen allerdings lässt sich eine Entwicklung im Verhältnis der beiden wahrnehmen, die durchaus spannend zu verfolgen ist.
Die nüchterne Rheinländerin wählte bewusst den Schweden als Dokumentator der Reise aus, weil er verheiratet und damit unverfänglich war – die Alternative wäre ein Franzose gewesen. Nun gut. Anfangs scheint die Beziehung geschäftig zu sein und sogar zunehmend angespannt, wie sich dem Tagebuch des Schweden in der 8. Woche entnehmen lässt: „Sie glaubt, man braucht sich nur ins Auto zu setzen und dann los. Ich habe mich reichlich über sie geärgert. (…) Ich werde mit jedem Tag saurer und wünsche, ich hätte mich auf diese verdammte Reise nie eingelassen“ (Sö 54). Die Chefin macht nämlich Druck, hat einen straffen Zeitplan, und die körperlichen Strapazen zehren zusätzlich an den Nerven. Einen Monat später in Russland, als die dominante Frau ungeschickte Entscheidungen trifft, „platzt“ Söderström „der Kragen“ (Sö 81) und er sagt Stinnes alles, was er von der Reise hält.
Vielleicht war das Gewitter reinigend, denn nur wenige Tage später zeigt er sich beeindruckt von ihrer Art: „Sie muss aus Stahl gemacht sein, so wie sie alles aushält, ohne zu klagen“ (Sö 86). Oder er hat sich schlicht mit seinem selbst gewählten Schicksal arrangiert: „Lieber wäre ich zuhause, (…) aber irgendwie muß ich ja mein Geld verdienen“ (Sö 93).
Die Stimmung im Team wird in der einsamen Tundra lockerer: „Fräulein Stinnes und ich machen einen Ringkampf im Heu. Ich lache bis mir die Tränen fließen. Frl. Stinnes wird von Tag zu Tag kameradschaftlicher, und gut kochen kann sie auch.“ (Sö 93). In einer gefährlichen Situation bei einer Flussüberquerung übernimmt Söderström das Steuer für den ersten Wagen und das, sagt sie ihm, wird sie ihm „nie vergessen“ (Sö 99).
Zur mehrmonatigen Unterbrechung der Fahrt gezwungen, fällt Weihnachten im Sibirischen Irkutsk verhältnismäßig üppig aus. Stinnes hat nämlich für ihren letzten verbliebenen Mitstreiter überraschend viele Geschenke besorgt, die so gut bei ihm ankommen, dass er sie im Tagebuch ausführlich vermerkt. Und wenige Tage darauf bietet sie ihm das „Du“ (Sö 125) an. Mitten im kältesten Winter ist das Eis gebrochen …
Als fachliche Qualifikation Söderströms für seine eigentliche Aufgabe galt seine Mitwirkung an der Verfilmung des schwedischen Romans Gösta Berling von Selma Lagerlöf, bei der die spätere Hollywoodgröße Greta Gabo ihren Durchbruch hatte. Allerding war er am Set nur der Assistenzkameramann. Es ist zu vermuten, dass er sich nicht auf so ein ungewisses Unterfangen eingelassen hätte, wenn die Ambitionen oder Möglichkeiten größer gewesen wären. Immerhin wird er von dem deutschen Direktor Außenberg von FOX-Film (später berühmt als 20th Century Fox) vermittelt, mit dem Stinnes gut bekannt war. „Zehn Tage nach dem ersten Telegramm, das ihn nach Berlin gerufen hatte, fuhr er mit dem Auto aus den Mauern Frankfurts auf die ‚Reise um die Welt‘“ (Sti 25).
Abgesichert durch eine Police über „70 000 Mark bei Invalidität oder Todesfall“ (Sö 27) und ausgerüstet mit einer Spiegelreflexkamera von Ica sowie einer Filmausrüstung lernt Söderström schnell, dass es bei dieser Fahrt nicht nur um seine Kunst geht – schon hinter Prag haben sie die erste Panne, bei der alle mitanpacken müssen. Und ab Budapest werden auch die äußeren Bedingungen unbequem: „Warnung! Läuse und Kakerlaken laufen die ganze Nacht in meinem Bett um die Wette“ (Sö 31).
Seiner Tätigkeit als Dokumentator kommt Söderström auf der ganzen Reise nach. 800 Fotos sind erhalten und ein Original des zusammengeschnittenen Kino-Films. Unterwegs schickt er immer wieder „Filmmaterial an die Deuling-Wochenschau und an das Kopierwerk Dröge und Lorentz“ (Sö 34) oder an die „Ufa Wochenschau“ (Sö 113) – ob davon noch etwas den Krieg überstanden hat, konnte ich nicht herausfinden.
Im Laufe der Fahrt freundet sich der Schwede also nicht nur langsam mit seiner Arbeitgeberin an, er wechselt auch zwischen der Rolle als Filmer, Fahrer und Mechaniker und wird schließlich der einzige Reisepartner, nachdem die anderen aufgeben.
Die Mechaniker
In Frankfurt startet die Reise mit zwei Mechanikern, Viktor Heidtlinger und Hans Grunow, die von den Adler Werken vermittelt wurden. Doch ein Problem lastet von Anfang an auf dem Unternehmen. Die Auslieferung des brandneue Standard 6 hatte sich um Monate verzögert, so dass die Zeit bis zum sibirischen Winter für die Strecke zu kurz wurde und Stinnes bei jeder Gelegenheit auch außerhalb des Autos aufs Gaspedal trat. Das war der Arbeitsatmosphäre nicht sehr zuträglich – der Teamspirit fehlte.
Grunow erkrankt an einer Blindarmentzündung – vielleicht auch wegen der schwierigen äußeren Bedingungen – und kann zum Glück in Moskau rechtzeitig operiert werden. Ein Ersatzmann wird organisiert und mangels Kompetenz schnell wieder nach Hause geschickt. Als der Herbst auf der Weite Sibiriens mit tagelangem Regen jeden Weg zur Schlammsule verwandelt, Übernachtung und Essen immer armseliger und Flussüberquerungen zu lebensgefährlichen Unterfangen werden, reicht es dem letzten verbliebenen Mechaniker Heidtlinger – er streikt: „Wenn Sie glauben, dass ich diese Schinderei noch länger mitmache, irren Sie sich. Ich riskiere nicht weiter meinen Kopf dabei“ (Sti 84).
Zur Überraschung von Clärenore hat sich die Stimmung bei ihrem Dokumentator Söderström gewandelt. Er bekennt sich zu ihr: „Wenn ich einverstanden wäre, meinte er, springe er überhaupt als Fahrtgehilfe ein, und wenn es an ihm läge, sollte der Mangel an Mechanikern das Unternehmen nicht zum Scheitern bringen. So entstand mir ein Freund in der Not. (…) Von diesem Tage an wurde die Fahrt (…) auch eine deutsch-schwedische, den nur dadurch, daß Söderström aushielt, gelang es, unser Programm zu Ende zu führen“ (Sti 85). Nicht viel später, nach nur einem halben Jahr, ist das Unternehmen tatsächlich auf die beiden beschränkt.
Die Reiseleiterin
„Stinnes bringt es wie üblich zu einer Szene, als die Rechnung kommt. Ihr Sinn für Sparsamkeit ist manchmal ziemlich anstrengend“ (Sö 55), schreibt Söderström nach 6 Wochen Fahrt, als sie eine hervorragende Unterkunft in Beirut verlassen. Auch mit der Arbeitsmoral der Chefin ist er nicht glücklich: „Stinnes erscheint mal wieder erst zwei Stunden später“.
Wegen der Verzögerung ist die Planerin nervös: „In mir herrschte stete Unruhe wegen Sibiriens Winter. Nur ein äußerst forciertes Fahren konnte uns vor dieser Gefahr retten. Bis Moskau wurde ich daher für meine Begleiter eine ständige Mahnerin, die hetzend hinter ihnen stand. Unzählbar waren die vielen mürrischen Blicke und die bösen Mienen (…)“ (Sti 31). Psychologisch ist es sicher nicht klug, wenn sich die Leiterin nicht selbst an ihre Anweisungen hält und wie in Beirut einen Rausch ausschläft.
Wenn es darum geht, an Grenzen und Zollstationen das Vorankommen zu beschleunigen oder sich gegen männliche Unkorrektheiten zu erwehren, schreckt die Unternehmertochter nicht davor zurück, sich auf Autoritäten zu berufen, einzuschüchtern und Macht zu demonstrieren. „Aus dem Selbsterhaltungstrieb heraus folgte ich meinem instinktiven Empfinden, und ehe es noch zu einem Konflikt zwischen dem die Situation verkennenden Offizier und mir gekommen war, fing ich an, auf deutsch wie ein Rohrspatz zu schimpfen“, denn „Kraftausdrücke sind im Tonfall international. Mein Erguss wirkte ernüchternd …“ (Sti 60). Diese Taktik einer selbstbewussten Frau wirkt in der immer noch Männer dominierten Welt, selbst in Ländern wie der Türkei und in China.
Der Winter holt alle in Sibirien ein, die Begleiter im Lastwagen geben auf. Wäre Söderström nicht gewesen, hätte vermutlich auch das Fräulein Stinnes die Waffen strecken müssen, bei allem Stahl der Rheinländerin. Das viertel Jahr Überwinterung in Irkutsk bringt ein wenig Ruhe, aber die Schwierigkeiten werden nicht weniger. Die moralische Unterstützung blieb beständig: „nur Söderströms Humor und gutes Zureden brachten mich wieder zum Lachen“ (Sti 222).
Krankheit und Strapazen
Stete Begleiter auf der Reise sind unzählige Pannen, Strapazen und kleinere wie auch sehr ernsthafte Krankheiten.
Kurz hinter Prag bricht bereits die Kupplung und Söderström schwant Böses: „Es sieht nicht so aus, als wenn die Autos die ganze Reise halten würden“ (Sö 28). So viele Teile wie in den zwei Jahren zu ersetzen sind, zweifle ich daran, ob der Standard 6 am Ende überhaupt noch derselbe war, aber er kommt entgegen der Vermutung an.
Nach kaum einer Woche Fahrt muss Söderström vermerken: „Mein Magen revoltiert in einem fort und ich kann nur und Wasser trinken. Mageres so ab, daß man es sehen kann. Wenn das so weitergeht, kommt nur mein leeres Hemd zurück“ (Sö 32) In dem heißen „Damascus“ streckt ihn bei Dreharbeiten ein „Sonnenstich“ (Sö 57) nieder. Mit der Kälte Sibiriens kriecht der „Rheumatismus“ (Sö 102) in seine Knochen – und Stinnes massiert seine Schultern. Sein Kollegen Gronow leidet ständig an Bauchschmerzen, die sich schließlich zu einer Blinddarmentzündung zuspitzen, die operiert“ (Sö 86) werden muss. Stinnes leidet in Russland an Zahnschmerzen, die zunächst mit „Morphium“ (Sö 103) behandelt werden, am Panamakanal wieder aufflammen, ihr die Schönheit der Landschaft vergällten und durch „operativen Eingriff geheilt“ (Sti 167) werden konnten.
Die Küste Perus ist „Felsengebirge oder unpassierbare Düne“ (Sti 180), die ganzen Kordilleren sind eine „Wüste“ aus Stein, „Pampa“ (Sti 173 f.), trocken und wasserlos. Kein Wunder, dass es beide dort mehrfach erwischte, weil sie dank unzähliger Pannen kaum vorankamen und kurz vor dem Verdursten schließlich sogar Kühlerwasser tranken; „hohes Fieber“ war die Folge. Söderström begann „zu phantasieren, das Fieber stieg auf 41°“ (Sti 201). Trotz Hitze fröstelt er. Ein Versuch mit einem „alten Indianermittel“ (Sti 202), gekochte Kokablätter, gelang und wenig später „verzehrte er ein gebratenes Hühnchen“. Auf 4000 m Höhe am Titicacasee erkrankten beide nacheinander ernsthaft an einer typischen Lungenentzündung: „Wie ein Fisch auf dem Land schnappten wir nach Luft, Mund und Nase füllten sich mit Blut. Aber auch das ging vorüber und unsere Körper fingen an, sich dem Höhenklima anzupassen“. Eine Pferdekur mit dem „Hausmittel“ der Mutter, „Aspirin und Zitronenlimonade“ half (Sti 211).
Penicillin war noch nicht entdeckt und die hygienischen Umstände der Reise zeitweise katastrophal. Auch in Gestalt von Räubern, Abgründen, einem Taifun, reißenden Flüssen, giftigen Tieren lauerte der Tod – es ist eine glückliche Fügung, dass alle überlebt haben.
Was soll man von einer deutschen Unternehmenstochter hinsichtlich ihrer Weltoffenheit erwarten? Nicht viel eigentlich, und doch war ich, wie schon erwähnt, positiv überrascht.
Natürlich passt auch manches ins Klischee. Innerhalb der westlich geprägten Hemisphäre frönt die junge Frau an einigen Stationen den Gewohnheiten der High Society mit viel Champagner und Ausschweifungen bis weit in den Morgen. In Argentinien bei ihren Verwandten, den Wagenknechts, und deren Freunde genießt sie unbekümmert den Luxus inklusive Swimmingpool und illustrer Gesellschaft. Aber am Ende der Reise, in den USA angekommen, versucht sie gezielt diesem schal gewordenen Rummel zu entgehen und schätzt die „Naturschönheiten“ (Stinnes, 246) in den Nationalreservaten.
Sie ist eine ungewöhnliche Frau. Es lohnt sich also, genauer hinzusehen und in den Blick der Rheinländerin auf die Welt einzutauchen. Dabei gehe ich vom Kleinen zum Großen, von den erhaschten Eindrücken zu den ausführlichen Beschreibungen.
Impressionen „im Vorbeifahren“ (Sti 102)
Wirklich verweilt hat die motorisierte Reisegesellschaft nur an wenigen Orten und meistens erzwungen oder für eine notwendige Erholung. Vieles ist mit einem schnellen Blick aus Autofenstern oder für eine Nacht beobachtet. Impressionen eben …
Nicht unerwähnt lassen kann ich als Stuttgarter die Banat Schwaben, deren Einfluss sich sogar an der „besseren“ Landstraße vor Belgrad ablesen lässt. „Sie begrüßten uns in unverfälschtem schwäbischem Dialekt“ (Sti 32), bemerkt Stinnes, obwohl schon ihre „Urgroßeltern“ unter Maria Theresia dorthin ausgewandert waren.
Einem alten Vorurteil mit vermutlichem Wahrheitsgehalt folgt eine Randbemerkung über Serbien: „Das einzige, wofür die Serben zu leben scheinen, ist ihr Militär. Überall sieht man Offiziere und Soldaten“ (Sö 33).
Der „Jahrmarkt“ (Sti 34 f) in Bulgarien mit bunten Bändern, lautstarken Händlern, Barbieren und zahllosem Vieh, das dort verkauf wird, beeindruckte in seiner Fremdheit genauso wie eine „Beduinenzeltstadt“, deren Bewohner Schlangen „aus allen Taschen zogen“. Den Zuschauern bereitete es hämisches „Vergnügen“, „wenn sich einmal eine widerspenstige Schlange zischend gegen ihren Herrn wandte“ (Sti 57).
In den arabischen Staaten auf dem Weg von Bagdad nach Tiflis fällt ohne Wertung auf, dass in den Straßen der kleinen Orte „Mann neben Mann, Araber und Beduinen“ sitzen, Wasserpfeife rauchen, Kaffee trinken oder sich den „Klängen eines Grammophons“ erfreuen. „Eine Frau war unter all den Männern nicht zu erblicken“ (Sti 61). Auch sonst „verschwanden die Frauen, da in Persien streng darauf gehalten wurde, daß eine Frau nur den eigenen Mann und die engsten Familienangehörigen zu Gesicht bekommt. (…) Auf der Straße gingen sie nur mit dem das Gesicht verhüllenden Tschador“ (Sti 62).
Kurios und nur aus der Ferne wahrgenommen, sind auf Honolulu „braunhäutige Hawaiburschen“, die „auf ihren Surfbrettern mit der Gischt des rollenden Meeres dahinschossen“ (Sti 166). Unter dieselbe Kategorie fällt ein Kurzbesuch auf den Guano Inseln, wo der Mist von unzähligen Vögeln „als wertvoller Dünger“ (171) auf Schiffe verladen und nach Europa transportiert wird.
Über ein paar Städte sind interessante Aspekte vermerkt. Ankara, damals noch Angora genannt und fast noch ein Dorf mitten in einer Wüste, ist nach dem „Willen Kemal Paschas“ gerade Hauptstadt geworden, aber noch in den Anfängen, „kaum ein großes Gebäude. Trotzdem fühlen wir die Möglichkeit, daß vielleicht hier schon in wenigen Jahren das Leben einer Großstadt abrollt“ (Sti 43) – so ist es gekommen. Beirut, heutzutage immer wieder mit Negativschlagzeilen in den Nachrichten, wird als Idyll beschrieben mit „Sandstrand“, „Freibad“ und „den malerischen Felsen der Taubengrotte“ (Sti 53) wie auch einem regen Automobilverkehr. In der Stadt „Tula“, unweit von Moskau, hüten Tolstois Nichte und Großnichte „das Anwesen, in dem der Dichter gelebt und geschrieben hat“ (Sö 84) .
Was die Reisegruppe in Peru erlebt, könnte man fast als Motto nehmen – in weiten Teilen der Welt ist die Zeit stehengeblieben. Zu Gast beim Dorfpriester findet Söderström an der Wand in seinem kleinen Zimmer eine Ahnengalerie von „Portraits europäischer Königshäuser“ längst vergangener Zeiten vor. „Kaiser Wilhelm“ (Sö 202) sei zu grüßen, wohlgemerkt im August 1928. „In dem einsamen Bergdorf der Cordilleren sind die Geschehnisse der großen Welt nicht bemerkt worden“.
Essen in den Ländern
Unterschiedlichstes Essen wird kommentiert, was auch ein klein wenig Weltkulturgeschichte ist.
Das türkische Fladenbrot kommt schlecht weg. „Freilich mußte der Hunger schon sehr groß sein, um diesem Brot Geschmack abgewinnen zu können! In seiner äußeren Erscheinung war es flach wie ein Teller, fingerdick und biegsam erinnerte es – fast möchte ich sagen, in jeder Beziehung – an eine gute gesunder Schuhsole! (Sti 42). Im Irak wird den Europäern „Limonade mit frischen Eis“ angeboten, die aussah, als wenn „Goldfische mindestens eine Woche lang darin herumschwammen“ – der Geschmack bestätigte dies, aber die Hitze ließ sie das Getränk trotzdem „gierig“ (Sit 61) zu sich nehmen.
Als sich in Russland die Wege zu einem einzigen „Schlammloch“ verbinden, wird der Proviant knapp: „Rohe Nudeln und Reis war das einzige, was wir noch besaßen. Wir vertilgten sie in rohem Zustand, denn zum Abkochen waren wir zu müde“ (Sti 73).
In Sibirien ist das „Nationalgericht des Winters gehacktes Fleisch, welches in Mehlteilg (sic) gewickelt zu kleinen Taschen verarbeitet worden und dann der Luft hartgefroren war. (…) Für jeden warf man eine Handvoll in kochendes Wasser und hatte alsbald eine wohlschmeckende Bouillon mit Einlage“ (103).
Zu Gast bei einem Chinesen in der Mongolei werden „60 verschiedene Gerichte angeboten“, allerdings verhindert das landesübliche Essen „mit Stäbchen“, dass die Eingeladenen wirklich satt werden und alles hat „eigenartig nach Rizinusöl geschmeckt“ (Sö 137).
Armut und Fremdheit – Sibirien, China und Japan
Im Hinterland der Türkei und besonders in Russland wird es für die Reisegruppe augenfällig, in welch schlechten Verhältnissen die Menschen leben.
„Die Natur trieb eine drakonische Auslese“ (Sti 94), beobachte Clärenore. Bei Frauen waren „16 oder 18 Kinder“ keine Seltenheit. „Die Trauer, wenn eines starb, war nicht groß; der Verlust einer Kuh wurde in dem Kreise einer Familie, die mit den Sorgen ums Dasein zu ringen hatte, viel härter empfunden.“ Ich will mir nicht vorstellen, wie sich dies auf die emotionale Entwicklung der Kinder ausgewirkt hat. Schulen waren nur in größeren Ortschaften anzutreffen. Von Hygiene ließ sich kaum sprechen – überall gab es Ungeziefer und Wanzen, so viele, dass sich selbst die „Gesichtszüge der Ahne veränderten“ (Sti 94) durch wuselndes Ungeziefer hinter dem Glas des Bilds. Am verheerendsten wirkte die Droge des Vergessens: „Männer waren im Rausch auf die Straße gefallen und lagen schlafend im Dreck (…) Halbwüchsige und Kinder … alle schon Opfer des Alkohols“ (Sti 88). Mit einigen Betrunken gab es auf der Reise gefährliche Konflikte, aber dennoch hat die Gruppe auch im Russland viel Gastfreundschaft erfahren. Arm blieb es fast überall, auch weil die Lebensmittel vom Staat rationiert wurden.
Die ersten Eindrücke nach der Wüste Gobi in China sind ernüchternd: „An den Bergwänden öffneten sich schwarze Gruben, die Eingänge der Wohnungen dort lebender Chinesen, die primitivste Form der Höhlenbewohner, die oft kilometerweit zur Feldarbeit laufen mußten, um sich einem Reicheren die wenigen Cents für den täglichen Reisbedarf zu verdienen“ (Sti 141). Und auch in den „Kohleberwerken“ litten die „Ärmsten der Armen“ (Sti 157) unter den schlechtesten Bedingungen.
Etwas besser wird es in den Städten Chinas, wo das europäische Automobil fremd wirkt in den „schmalen Gassen, die denen die Kulis mir ihren Rikschas wie Ameisen hin und her liefen. (…) Vor den hell beleuchteten Schaufenstern hingen bunte Lampions und malerisch erhellten Reklametafeln, verziert mit wehenden Papier- und Stoffquasten“. Und inmitten des regen Treibens stand sogar „ein Polizist und regelte den Verkehr“ (Sti 142).
In Peking, das sie gerade noch in einer Zeit erreichen, bevor es durch Kriegsunruhen unsicher wurde, verstärkte sich die Faszination. Die von der Weltanschauung geprägte Architektur besticht als erstes die Augen: „Vom Thron des Himmels führte über Terrassen und Tempelhallen ein steinerner Weg zum Mittelpunkt der Erde (…). Nach dem Glauben der Chinesen besitzt die Welt die Form eines Würfels, und in China, im Reich der Mitte, eben an jener Stelle, vermeinten sie, den Mittelpunkt des Würfels gefunden zu haben“ (Sti 147).
Als zweites ist es das lebendige Straßenbild: „Kindertheater“ mit „Tanz auf Stelzen“ (Sti 153), „Tiertheater mit Affen und Hunden“ und „Schattenspiele“ (Sti 154). In „Holzgeklapper und Flöte (…) unterschied sich der Schuhputzer vom Messerschleifer, der Blumenhändler vom Altwarenhändler, der Teeverkäufer vom Straßenbäcker“ (Sti 151).
Und nicht zuletzt erstaunte der Geisterglaube und der Umgang mit dem Tod. „Nach chinesischem Glauben können böse Geister nur gerade Wege gehen“ (Sti 148), weshalb es immer wieder Mauern gibt, die von diesen nicht umgangen werden können. Auch bei ihrem Gastgeber machen sie die Erfahrung, dass dem Geist eines versehentlich getöteten Marders ein Tempel mit Opferstätte errichtet wurde, um ihn zu versöhnen. Begräbnisse werden gefeiert wie Hochzeiten und „lachend begruben die Angehörigen ihre Toten“ (Sti 150). Aller Besitz wird mit „Musik und Freudenrufen (…) verbrannt, damit sie dem Toten in seinem neuen Leben keinen Schaden zufügen“ (Sti 151).
Nur die „Unsitte, den kleinen Mädchen die Füße einzuschnüren und diese gewaltsam am Wachsen zu hindern“, weshalb Frauen „mit ihren kleinen verkrüppelten Füßen keine längeren Strecken gehen konnten“ (Sti 151) stößt die Europäer ab. In der Stadt waren diese traditionellen Praktiken bereits am Schwinden.
Obwohl die Einwohner Japans „Ruhe und Ordnung“ halten und weder „Revolution, (…) Banditen oder Rachelustige (…) das Leben zu einem quälenden Kampf“ (Sti 160) machten, haben sich Stinnes und Söderström nicht sehr wohl, sogar fremd gefühlt, außer ab und an bei den Leuten des Landes. Die Sitten hinsichtlich des Badens, bei dem sich ein japanischer Hausherr zu der Deutschen gesellen wollte, stießen auch auf wenig Gegenliebe. Der unbeschwerten Heiterkeit und Anmut der Japanerin zollt die gröbere Rheinländerin allerdings Respekt.
Chocó
Der Besuch bei den Ureinwohnern Panamas war nur ein touristischer Tagestrip auf einem „Einbaum“-Boot mit „Heckmotor“ (Sti 233), der mit Schalen aus Kürbisfrüchten ständig vom eindringenden Wasser befreit werden musste und neben unzähligen Krokodilen durchs Wasser glitt. Gleichwohl zeigte sich die Europäerin beeindruckt von der Lebensweise der am Fluss lebenden Chocó: „Auf mich wirkten diese Söhne und Töchter der Wälder unendlich sanft. (…) Ihr Blick war zutraulich und offen“ (Sti 235 f.). Geschmückt mit „Perlenschnüren“ und von bronzefarbener Haut. In „Zwei-Etagen-Hütten“ leben „drei Generationen“ zusammen, unter ihnen Hunde, Schweine und andere Haustiere.
Was Stinnes von der Kultur ein fast noch unberührten Indiozivilistation beschreibt, klingt in der Tat sehr nach einem „patriarchalischen System, das schon von den Zeiten unserer Urväter bekannt ist“ (Sti 234). Ein Mann wirbt beim Vater um die „Hand“ der Tochter; er muss nachweisen, dass er die Frau ernähren kann und eine „Gegenleistung“ in Form von Arbeit oder Tiere erbringen. Findet dies beim Vater gefallen und stimmt die Tochter zu, findet die „Hochzeit“ statt in Gestalt von einem „besseren Abendessen“ (Sti 235). „Uneheliche Kinder und Treuebruch waren seltene Erscheinungen“ aufgrund ungeschriebener „Moralgesetze“, die für die Frau eine Verstoßung zur Folge hatte. Die Kinder wurden in jüngeren Jahren von der Mutter betreut, Knaben dann für die Arbeit in die Obhut der väterlichen Erziehung übergeben. Bei „allen Beschlüssen“ wird in diesem dynastischen System der „älteste des Hauses – sei es Mann oder Frau – um seinen Rat befragt. „Die Gastfreundschaft war weit verbreitet“ und ging sogar so weit, dass ganze Familien sich bei Freunden flussabwärts für Tage einquartierten …
Woher stammen Clärenore Stinnes Informationen? – Vermutlich kaum aus erster Hand, zumindest wird kein direktes Gespräch mit Übersetzern geschildert. Für mich wirkt die Schilderung wie eine althergebrachte Auffassung aus Europa, die als Erklärungsmuster für eine fremde Kultur dienen, unpräzise und in Begrifflichkeiten, die kaum passen. Offensichtlich war über die Lebensweise und die Religion dieser Ureinwohner Südamerikas noch wenig bekannt. Immerhin ist sie diesem Stamm mit Respekt und beschreibend, nicht wertend begegnet. Zugutehalten muss man ihr, dass auch die Ethnographie damals noch in den Kinderschuhen steckte.
Organisatoren und Erfinder – „Wie ich die Staaten sah“ (Sti 241 ff.)
Ihr Bild von den USA zeichnet die Weltreisende am schärfsten und leitet für sich her, wodurch diese „ins überdimensionale gesteigerte(n) Wirtschaftsbetriebe“ (Sti 248) entstanden sind:
Für die Auswanderer aus Europa war der „Streit, der Kampf gegen die eingeborenen Indianer (…) das Bindemittel dieser bunt zusammengewürfelten Nationensplitter“ (Sti 241). Der „Sieg über den roten Mann“ und der Besitz des „errungenen Grund und Bodens“ gab den Eroberern ihr Selbstbewusstsein in Unabhängigkeit von ihren Ursprungsländern; sie wuchsen zu einer „Nation der freien Bürger Amerikas“ zusammen. Was ihnen an Geschichte, an Dichter und Denkern fehlte, machten sie als „Organisatoren und Erfinder“ (Sti 243) mit „Fabriken und Industrien“ wett und erhoben die „Arbeit“ zum „Leitsatz des Volkes“ (Sti 244).
Mit dem Detroiter „Selfmademan“ Henry Ford, der sie persönlich durch sein Werk führt, sympathisiert die Rennfahrerin und Autonärrin: „Er liebt seine Maschinen wir der Vater seine Kinder“ (St 245). Beeindruckt von dem Output von 8.000 Autos am Tag in einem Werk, beschreibt Stinnes das moderne „Just-in-time“-Prinzip, als ob es bereits zu dieser Zeit formuliert wäre: „Welche Organisation mußte dahinter stehen, um jeden Teil – vom Federbolzen bis zum Kolbenring – immer in dem Augenblick eintreffen zu lassen, in dem ein Arbeiter wieder die Zeit hatte, seine Hand danach auszustrecken“ (Sti 244). Söderström beschreibt in ebenso unkritischer Weise ein riesiges Schlachthaus mit 45.000 Arbeitern: „Ich habe selten etwas so Interessantes gesehen. Alles geht mit erstaunlicher Geschwindigkeit vor sich. Jeder Arbeiter ist spezialisiert auf ganz bestimmte Handgriffe am laufenden Band, an dem das Schwein hängt“ (Sö 234).
Ähnlich wie sich auch die Amerikaner selbst sehen dürften, bemerkt die Deutsche die „Freiheit“ durch wenig Beamte und Staat, die zu einer Klarheit, fast “ Schroffheit“ des Gesetzes führen, was auch „bürokratische Nachteile zeitigt“ (249). Stinnes gefällt nicht alles in den Staaten. In Kalifornien fühlte sie sich „fremd“ (244), die Dominanz der „Händler“, überall Reklame für „Bestleistung“ schreckt sie ab.
Irritierend war für mich, dass sie trotz der dokumentierten Begegnung mit den Ureinwohner Amerikas, die Hopi (Sti 247), deren Leben in den Reservaten als gegeben hinnimmt ohne großes Mitleid: „Die Indianer, die von dem Weißen aus ihrem Lande vertrieben worden waren, räumte man in diesen Parks eine Freistatt ein, wo sie ungestört nach ihren alten Gewohnheiten leben konnten. Jedoch die Jagd blieb ihnen verboten, und die weißen Büffelherden mußten sie vorbeiziehen lassen, ohne den Speer nach ihnen werfen zu dürfen“ 246). Dagegen hebt Stinnes hervor, dass „viele Weiße“ „mit ihrem Leben die Eroberung des Landes“ „bezahlten“ (Sti 242). Sollte die Karl May Lektüre doch den Blick verstellt haben für die Realitäten?
Ungeachtet der Ureinwohner urteilt sie: „In keinem Land hatten wir bisher eine so gesunde demokratische Gleichheit der Menschen angetroffen. Der Unterschied zwischen reich und arm, wie wir ihn in Europa kennen, existiert nicht. Jeder Arbeitswillige besitzt ein Haus, ein Auto, Radio, Grammophon und hat keine Sorgen um das tägliche Brot. Es gibt nur den Unterschied des Reicheren“ (Sti 248).
Die Sicht von Clärenore will ich an dieser Stelle nicht unwidersprochen stehen lassen. Der links ausgerichtete → Ernst Toller, in der Selbstbeschreibung ein „radikaler Sozialist“ (To 13) ,ist fast zeitgleich (vermutlich 1929) wie Stinnes in den Staaten und ebenfalls zu Besuch in Henry Fords Werken. Er bestätigt in sehr ähnlicher Beschreibung, dass es einigen Arbeitern gut geht, ja „besser als ihren Kameraden in Deutschland“: „Jedes Haus hatte große Radioapparte, Grammophon (…)“ (To 16). Doch Toller sieht im Gegensatz zu Stinnes viel deutlicher die Schattenseiten: „Wenn ein Arbeiter krank wird oder arbeitslos, hat er so gut wie keinen Schutz, (…) ist auf private Wohltätigkeit angewiesen.“ (To 16). Es gibt viele Stadtteile, die „slums“ gleichen. „Die Höhe der Kriminalität, der Einbrüche ist nur durch solches Elend zu erklären“ (To 16 f.). Deshalb urteilt er, dass die allgegenwärtige Maxime „Jeder Mann kann reich werden“ (To 14) eben doch nur eine „Illusion“ (To 15) ist. Henry Ford stellte keine „gewerkschaftlich organisierte Arbeiter ein“ (To 18), keine Frauen, wer „austreten will“ (To 21) muss warten, „bis der Aufseher den Reservearbeiter an seine Stelle setzt“. Die Strafen für Unpünktlichkeit sind drakonisch. Es kann passieren, dass „einer sein Leben lang einen und denselben Handschlag an einem Autoteil tut, ohne daß er je das fertige Auto (…) zu Gesicht bekommt“ (To 27).
Die Beschränkungen sind noch weitreichender. Theaterstücke wie von Strindberg oder Wedekind, die den „Konflikt der Geschlechter“ (To 63) oder die „Kehrseite amerikanischen Reichtums“ (To 64) thematisieren, können in den Staaten nicht aufgeführt werden. „Denn in God’s own country, das sich das Land der Freiheit nennt, ist von geistiger Freiheit wenig zu spüren“ (To 23). Und auch die „Entrechtung des Negers im politischen und sozialen Leben wird als selbstverständlich hingenommen“ (To 75).
Traditionen, Gebräuche und Religionen
„Doch auch von den Menschen, durch deren stehende Kreise unsere Linie lief, lernten wir manches kennen. Instinktiv begriffen wir Zusammenhänge, wo uns die Sprache fehlte“ (Sti 93) – so begründet die kluge Frau ihre Betrachtungen der Lebensweise anderer Kulturen.
Der Jagdausflug bei der erzwungenen Winterpause am Baikalsee könnte wie eine Manier deutscher Kolonialherren erscheinen, tatsächlich aber tauchen Söderström und Stinnes bei dieser Gelegenheit tief in die Sitten und Jagdgepflogenheiten des Mongolenstamms der Burjaten ein. Und beide betonen auffällig übereinstimmend in ihren Aufzeichnungen, dass „Tarasun“ das „widerlichste Getränk“ ist. „Die Bauern stellten es aus vergorener Stutenmilch unter Zusatz von Alkohol her und verkorkten die Flaschen mangelseines anderen Verschlusses mit Kuhdung“ (Sti 106). Um den Gastgeber nicht zu beleidigen, musste das Zeug getrunken werden.
Geister lebten für die Burjaten überall, die „Angst vor den bösen Geistern veranlaßte jeden, im Sinne der leicht erzürnbaren Gottheit zu handeln. Man spendete, um ihre Gunst zu gewinnen, Speisen und Geschenke. Selbst vor jedem Schluck aus dem Schnapsglas schüttet der Burjate die ersten Tropfen für die Götter auf den Boden! An jedem Haus hingen Felle von kleinen Tieren – meist Wiesel und Hermelin – in denen die Hausgötter leben“ (Sti 102 f.). Stinnes interpretiert dies als „Ausläufer des buddhistischen Glaubens“ (Sti 103). Spannend auch die Jagdtradition, sobald „ein Reh zur Strecke gebracht“ war. „Ein rascher Schnitt öffnete den Leib, aus dem sie Herz, Nieren und Leber rissen, um sie roh und noch warm zu verschlingen. Schmatzend lachten sie vor Wohlbehagen und schlürften zum Schluß, mit den Händen schöpfend, das frische, in der Bauchhöhle zusammengelaufene Blut“ (105). Zu ihrer Erleichterung mussten die beiden Europäer diesen Brauch nicht mitmachen …
Fasziniert ist die Weltreisende auch von den Mongolen in Ulan Bator – „bunt und fremd“ (Sti 126): „Kamele und Automobile kreuzten sich in den engen Straßen. Gläubige pilgerten über die weiten, großen Plätze. Büßende bereuten ihre Sünden, indem sie sich alle drei Schritte auf die Erde warfen und den Straub küßten“ (Sti 126 f.). Und noch weiter gehen die Beschreibungen der rituellen Gewänder und Praktiken. Den „goldenen Buddha“ (Sti 129), eine 14 Meter hohe Statue, findet genauso Eingang in ihren Reisebericht wie zeltartigen Jurten, Klosterstädte, Hüte und der unglaubliche „Kopfputz der verheirateten Frauen“ (Sti 131), von dem es auch Bilder gibt.
Irritiert zeigt sich auch Söderström von den Sitten der Mongolen, obwohl er sonst wenig in seinem Tagebuch kommentiert: „Toiletten scheinen (…) ein unbekannter Begriff zu sein. Männer und Frauen verrichten auf den Straßen ihre Notdurft. Die Toten werden einfach aus den Häusern den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Über die ganze Stadt verstreut liegen ihre Knochen. Die Verwandten erkundigen sich immer wieder, wie viele Hunde bei der Leiche sind, denn nur schlechte und sündige Menschen werden nicht gefressen“ (Sö 138).
Weniger fundamental wie der Umgang mit dem Tod, aber kaum weniger verstörend für den deutschen Geist waren die Sitten der Menschen Lima, die zwar „gute und ehrliche Leute“ waren, „aber von Reinlichkeit keine Ahnung“ hatte. „Vom Kellner über den Gast bis hin zum Besitzer spuckte jeder nach Belieben auf den Boden, gleichgültig, ob es im Restaurant oder in den Stuben war“ (Sti 210).
Nicht überall ist alles seit Jahrhunderten gleichgeblieben. Ein Kulturwandel zur Moderne hat bereits eingesetzt. In Argentinien etwa ist in der Viehzucht der typische Cowboy oder „Gaucho“ bereits am „Aussterben“. Er war es, der „früher“ (Sti 226) die „dreijährigen Pferde mit dem Lasso einfing“ (Sti 225) und unter Einsatz seines Lebens einritt, wogegen man „jetzt“ „immer mehr dazu übergeht, die Tiere in milderer Form zu erziehen“. Auch bei den Rindern wird das Zeichenbrennen rationalisiert und jedes Tier durch ein Bad mit „Desinfektionsmittel zum Schutz gegen Hautkrankheiten getrieben“ (Sti 226). „Die neue Zeit vertrieb die alten Methoden und deren Romantik, aber sie arbeitet zum Nutzen von Mensch und Tier“ (Sti 226).
Gastfreundschaft
Selbst in den ärmsten Gegenden der Welt sind die Europäer von der einfachen Bevölkerung mit großer Gastfreundschaft empfangen worden. Natürlich gab es auch Situationen von Bedrohung und Gewalt, die leicht zu dramatischen Szenen hätten führen können – dann allerdings hätten wir vermutlich nichts mehr davon erfahren. Mit dem glücklichen Ausgang bleibt also das positive einer weltumspannenden Freundlichkeit der Menschen im Vordergrund.
Die Türken hinter Konstantinopel werden ausdrücklich als „liebenswürdig“ (Sti 37) tituliert. Ebenso berichtet Stinnes „von freundlichen Kurden“ (Sti 47), von denen sie bewirtet und neugierig beobachtet wurden. In Kleinasien ist eine „Herzlichkeit zwischen Soldat und Zivilist“ (Sti 49) zu beobachten und bei den Armenieren eine stolze Großzügigkeit: „Weintrauben hingen an kräftigen Rebstöcken, und gastfreundliche Armenier boten uns davon soviel an, wie wir nur haben wollten“ (Sti 66).
Keine zehn Jahre nach dem großen Krieg hat es etwas von einem Akt der Völkerverständigung, wenn die Deutschen mit zufällig in Persien getroffenen Russen ihre Vorräte teilen: „Treffen hier drei Russen, die Kriegsgefangene in Deutschland gewesen sind. Sie sprechen ganz gut deutsch und besorgen Wein. Wir laden sie zu einem Essen aus der Konservendose ein“ (Sö 66).
Fast überall galt: „Die Menschen (…) freuten sich, wenn ein Fremder ihnen und ihrem Leben Interesse entgegenbrachte“ (Sti 94). Und selbst im ärmsten Russland zeigt sich die Landbevölkerung offen: Die „Gastfreundschaft, die man uns zuteil werden ließ, blieb sich überall gleich. Sobald unser Wagen ins Dorf kam, sammelten sich die Bewohner um uns. Wir baten dann um eine Unterkunft, und nach eingehender Beratung erhielten wir jedesmal den größten Bauernhof zugewiesen“ (Sti 93). Was für den europäischen Kontinent galt, war auch anderenorts zu spüren, etwa die „Gastfreiheit der Südamerikaner: (…) Keine Frage ‚woher‘ und ‚wohin‘, nur die Aufforderung: ‚Bleib so lange du willst‘“ (Sti 174).
Immer wieder wurde dem kleinen Autokonvoi beim Grenzübertritt von offizieller Seite ein Begleiter an die Seite gestellt, so etwa in der Türkei oder in Russland. In einigen Fällen waren diese hilfreich und wurden zum Freund, in anderen waren sie nur Aufpasser oder Spion. Beim türkischen Major Jusuf war es das eine: “Ohne diesen hilfsbereiten Menschen wären wir kaum durch die Türkei gekommen. Er hat immer für zwei gearbeitet und nie aufgegeben“ (Sö 51).
Nicht selten finden Sie Unterkunft bei gastlichen Landsleute. Ausgerechnet mit einem reichen Deutschen in der Mongolei allerdings machen Stinnes und Söderström schlechte Erfahrungen. Der Mann will in den Reisebericht „wie Kisch und Konsorten“ aufgenommen werden, nimmt sie unter falschem Vorwand mit in sein Haus, verweigert ihnen aber aus „krankhaftem Geiz“ (Sti 125) eine angemessene Mahlzeit, weshalb sie die Küche plündern und ins Hotel ziehen.
Vierbeiner
Lord, ein „schwarzbrauner Gordonsetter mit langem, seidenweichem Fell“ (Sti 28), erzwingt mit einem „Hungerstreik“, dass er seine Herrin bis zum Reiseabschnitt nach Amerika begleiten darf. In der Türkei am Taurus Pass wird er von zwei Wolfshunden angegriffen und verletzt. Stinnes berichtet über die Verwunderung der Bewohner als sie ihren Hund medizinisch versorgt und damit einem „Tier menschliche Behandlung zukommen ließ“. Ein Anlass für die Weltreisende, sich darüber zu mokieren: „Leider konnten wir in zunehmendem Maße (…) beobachten, mit welcher Verständnislosigkeit und Grausamkeit alles behandelt wurde, was Kreatur hieß“ (Sti 51).
Als in Persien ein Karawanen-Pferd trotz schwerer Verletzung von seinem Herrn erbarmungslos weitergetrieben wird, kaufen Stinnes und Söderström kurzerhand das Pferd für 20 Mark und erlösen es mit drei Kopfschüssen von seinem Leid. Die kulturelle Differenz wird eklatant: „Die Treiber sahen auf uns herab, als ob sie es mit Schwachsinnigen zu tun hätten“ (Sti 62).
Die Tour durch die Welt war letztlich eher eine Tortour als eine Rallye und schon gar kein romantischer Urlaub. Mit Witz und Sympathie bringt Stinnes dies mit ihren bildhaften Worten am südamerikanischen Strand zum Ausdruck: „Wenn wir jetzt hier statt auf Dynamit auf der Terrasse eines großen Hotels sitzen würden und nicht im schmutzigen Arbeitsanzug, sondern in Smoking und Gesellschaftskleid an gedeckter Tafel, dann würden wir sagen: ‚Wie schon ist doch das Meer und der Mond‘ und ‚Kellern, eine Flasche Heidsiek Monopole!‘. So aber betrachteten wir unsere schwarzgeränderten Nägel und spuckten in den Sand“ (Sti 187).
Und im Rückblick schreibt die Organisatorin demütig: Die Fahrt „war gelungen, weil wir bis zu unserer letzten Kraft in Einigkeit zusammengehalten hatten, das Ziel, nach dem wir strebten vor Augen (…), weil das Glück uns zur Seite gestanden hat, und (…) uns in allen Ländern und in allen Bevölkerungsschichten Freunde erstanden“ (Sti 253).
Und wie ging es weiter?
Der Film und Schweden
Die Presseresonanz auf das automobile Abenteuer war groß, weshalb Stinnes und Söderström in Berlin an einem Dokumentarfilm über ihre Reise arbeiteten, der neuen Mode entsprechend wird der Film mit Ton unterlegt – einer eigens komponierten Musik und Kommentare von Clärenore Stinnes selbst. 1931 kam „Im Auto durch zwei Welten“ in die Kinos – wohl mit großem Zuspruch beim Publikum.
Inzwischen sind die beide ein Paar geworden und haben nach der Scheidung Söderström von seiner Frau sogar am 20. Dezember 1930 geheiratet. Die Pläne für weitere Weltreisen wurden wieder verworfen – die Frischvermählten ziehen auf ein Gutshof der Stinnes-Familie nach Schweden. Für alles weitere kann ich nur auf die Recherche anderen vertrauen und deshalb lediglich zitieren: „Bis in die 60er Jahre arbeitet Clärenore (…) – 1931 kam das erste Kind zur Welt – , als Landwirtin und zog mit Carl-Axel Söderström neben ihrer Tochter und zwei Söhnen mehrere Pflegekinder groß. Noch im Alter von weit über achtzig Jahren hielt sie sich durch regelmäßiges Schwimmen fit, und auch die Lust am Autofahren blieb ihr erhalten. Bis wenige Jahre vor ihrem Tod – Clärenore Söderström starb 1990 in Schweden – fuhr sie mehrmals jährlich zwischen ihrem Gut in Südschweden und der ‚Schwedenhütte‘, ihrem gemütlichen Holzhaus an der Mosel, hin und her – und saß dabei natürlich selbst am Steuer“ (Habinger, in Sti 14).
Pferdestärken – ein historischer Roman über Clärenore Stinnes
Es gibt zwei historische Romane, die sich mit Ereignissen um diese interessante Frau beschäftigen – gelesen habe ich nur den von Michael Winter „Pferdestärken. Die Lebensliebe der Clärenore Stinnes“ ( 2001). Zur praktischen Illustration der Reise bietet das Buch schöne Ideen – es ist überhaupt sehr ansprechend geschrieben und lesenswert. Der Autor warnt im Vorwort, dass „nicht alles genau so war, wie es (hier) beschrieben wird“, erhebt aber trotzdem den Anspruch eher einen „Lebensbericht“ verfasst zu haben als eine Fiktion. Gleichwohl kamen mir einige Verwicklungen und Sensationen wie ein Zugeständnis an ein Publikum vor, das in einem Roman von Kriminalfällen, Spionage und Skandalen lesen mag. So gibt es etwa einen Attentäter im Umkreis der Familie, dessen Lebensgeschichte mit der Frau von Söderström und einer DDR-Agentin verknüpft ist, die Stinnes in hohem Alte aufsucht. Und natürlich sind sich Stinnes und Söderström schon in einer dramatischen Szene in ihrer Jugend in Schweden begegnet – keine Ahnung, wie es sich hier mit der Wahrheit verhält – das Leben ist verrückt und spannend, wie man an dem Abenteuer des Fräulein Stinnes ersehen kann, aber solch kuriose Fügungen und Zufälle wecken bei mir den bitteren Geschmack von Konsalik-Romanen.
Fasziniert hat mich persönlich vielmehr das Original. Clärenores Buch gibt es noch im Buchhandel, das Photo-Tagebuch von Söderström leider nur für relativ viel Geld im Antiquariat.
Clärenore Stinnes: Im Auto durch zwei Welten. Photos von Carl-Axel Söderström. Reimar Hobbing Berlin 1929, 2007 Promedia (1996)
Söderströms Photo-Tagebuch. 1927-1929. Die erste Autofahrt einer Frau um die Welt, Herausgegeben von Michael Kuball und Clärenore Söderström, Wolfgang Krüger Verlag 1981.
Weitere Quellen:
Toller, Ernst: Quer durch. Reisebilder und Reden. Reprint. Mit einem Vorwort zu Neuausgabe von Stephan Reinhardt, Verlag das Wunderhorn (1978, original 1930)
Winter, Michael: Pferdestärken. Die Lebensliebe der Clärenore Stinnes, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2004 (2001).
Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Insel Verlag 2022 (1. Auflage 2013, original: 1942).
Die Bilder sind Söderströms Phototagebuch entnommen. Die Rechte dafür liegen bei der Familie bzw. in Lizenz beim S.Fischer Verlag.
Links:
Clärenore Stinnes: der Film: Auszüge des Originalfilms und ein 1985 (?) mit Cläreonore Stinnes geführtes Interview, in dem sie ein paar persönliche Dinge aus dem Abstand hinzufügt.
Clärenore Stinnes: das Interview: Interessantes Gespräch mit Clärenore Stinnes über ihr Leben, vermutlich Ende der 80er Jahre geführt.
Hugo Stinnes (Wiki)
Zeitungsartikel über die Reise 1927-29: gute Zusammenstellung von 9 originalen Artikeln.
„Die schlaflosen Nächste des Eugen E.“
Der waschechte Schwabe Eugen Eberle aus dem Stuttgarter Westen engagierte sich in der Weimarer Zeit und im 3. Reich für die Arbeiterklasse. Ein interessanter Mann.
„Als ich Ludendorffs Frau war“…
erzählt aus dem gemeinsame Leben mit ihrem Mann Erich bis 1925. Ein nettes Zeitdokument über das Gedankengut der national und völkisch eingestellten Militärelite.
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