Die Neue Sachlichkeit

Jahrhundertjubiläum – Hartlaubs Ausstellung von 1925

Pflicht war die Ausstellung für mich als HistoRedakteur der Weimarer Republik. Denn 1925 präsentierte der Mannheimer Museumsdirektor Gustav Friedrich Hartlaub in seinem Haus 124 Werke von 32 deutschen Künstlern mit ähnlichen, nachexpressionistischen Merkmalen und prägte mit dem Ausstellungstitel „Neue Sachlichkeit“ einen Stil- oder besser Epochenbegriff der Kunstgeschichte. Die Neuauflage genau 100 Jahre später umfasst mit ihren 230 Exponaten viele der ursprünglichen und ergänzt diese um weitere vor allem von Künstlerinnen, die im Original ganz fehlten, und gewährt einen Rundblick in die Nachbarländer. Ein tolles Konzept, nicht nur Werke aus der Weimarer Zeit zusammenzutragen – was mich allein schon interessiert hätte –, sondern zugleich eine historische Ausstellung wieder aufleben zu lassen. Mir war es deshalb auch ein großes Vergnügen, durch die prägende Kunst einer Epoche zu flanieren …

Kunstflanieren …  

Das Museum
Schreitet man über den Friedrichsplatz in Mannheim vorbei an dem eindrücklichen Wasserturm auf die Kunsthalle in Mannheim zu, präsentiert sie sich mit einem nüchternen Neubau von 2018 – in stahlvernetztem Überzug. Die Eingangshalle ist weitläufig und hell, mit Kasse und den Aufgängen zu den Ausstellungteilen bis ins zweite Stockwerk; eine sich drehende Uhr schwebt über allem. Das hintere Bauwerk, direkt in den modernen Teil durch zwei Übergänge integriert, ist im Jugendstil erbaut und beherbergte die Ausstellung des damals noch jungen Mannheimer Kunstmuseums von 1925, heute die ständige Ausstellung, ebenfalls mit einem Schwerpunkt auf Werke vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Eindrucksvoll fand ich das Lampenarrangement (s. Titelbild) über der szenischen Wanddekoration zwischen den Marmorsäulen mit Bildern Mannheims aus den Zwanzigern.

Die Ausstellung
Schlangestehen am zweitletzten Wochenende – man hätte sich intelligent auch eTickets vorher besorgen können. Drängeln vor den Bildern und überall. Davon mal abgesehen: Eine Litfaßsäule, Symbol der Zeit und häufiges Bildmotiv – mit digitaler Info als Intro, Zahlentafeln der Zeitgeschichte, eine Dokumentation des Originalkatalogs.
Der erste Raum startet mit den prominentesten Künstlern wie Otto Dix, Max Beckmann, George Grosz, Georg Scholz und nimmt ins Herzstück der Zeit mit: die präzise dargestellte Groteske der verrückt gewordenen Welt nach dem Zusammenbruch der wilhelminischen Ära– wie Babylon Berlin. Irritierend abstoßend und anziehend faszinierend zugleich. Abbild des Zeitgeschehenes.
Der nächste Teil: „Das Bild des Menschen“ – detailgenaue Abbildungen von Portraits, Personen und Szenen, die fast alle wie zum Typus stilisiert wirken und einen Verfremdungseffekt vom Individuum weg anstoßen, bei Georg Schrimpf und Wilhelm Scharrenberg bis hin zu einer Vereinfachung zum Kindlichen und Wimmelbild. Ich konnte keine innere Beziehung zu den dargestellten Menschen als Person herstellen und doch strahlten sie etwas von ihrem Lebensgefühl aus – kurios.
Das Bild der Frau“ erzählt von dem erstarkten Selbstbewusstsein der städtischen Frau, sei es klassisch, mit Bubikopf und Zigarette oder wie bei Alfred Birkle „im offenen Wagen“. Typisch für die Sachlichkeit auch: die Frau bei der Arbeit als Näherin und Wäscherin, aber ebenso in neuen Berufen wie als Jazzerin, Laborantin und Angestellte. Vielfältig.
Körperideale“ – Akte in unterschiedlicher Art, mit jungen verführerischen Frauen, normalen, alten und dicken, posierend überzeichneten. Erotik kommt dabei nicht auf. Die Darstellung von Körpern bei Akrobatik und Sport ist ein neues Motiv dieser Jahre. Wirkt wie Propaganda. Wurde es auch nur wenige Jahre später.
Selbstbildnis“ – des Künstlers eitelstes Metier, inszeniert und symbolgeladen, manchmal surrealistisch. Neu sicher die Kontexte, in die sich die KünsterlerInnen setzen: Augenarzt, Radiobastler, Autohaus, Straße, Mittelalter, Dachstube. Kreativ.
Man sollte es nicht glauben, aber das Stillleben ist noch immer nicht unter dem Staub der Zeit erstickt. Im Gegenteil. Es lebt, ist bunt. Die herrschaftliche Jagdtrophäe ist verschwunden. Dafür ist der Alltag lustiger Motivgeber: Dachboden, Putzutensilien, gedeckter Tisch (immer noch!) und Gläser, Gummibaum, lebende Fische und Haustiere. „Es handelt sich um die Ding-Entdeckung nach der Ich-Krise“ (182), wie der Kunstkritiker Wilhelm Michel 1925 schreibt – ein Hauptgenre der Neuen Sachlichkeit. Mein Favorit von Georg Scholz „Kakteen und Semapore“ – einfach nur schön.
Wie die Stillleben werden auch die Bilder mit neuem Blick auf Landschaften, Orte und Industrietechnik im zweiten Stock gezeigt. Detailgenau und typisierend entfremdet – diese seltsame Kombination spricht mich an, weil es nicht mimetische Kunst ist und trotzdem die Zeit einfängt, weil weder im- noch expressionistisch verfärbt oder subjektiviert und dennoch düster-symbolische Momente wie Tod, Einsamkeit, Kälte und Verlorenheit als Aussage transportiert werden. Motive sind nicht die Wahrzeichen einer Stadt, sondern Gefängnisse, dunkle Ecken, Abbruchfassaden, Hauswände mit Werbung, Hinterhöfe und natürlich Industrieanlagen, technische Bauwerke, Straßenzüge und Eisenbahnen in allen Varianten. Mit dabei Reinhold Nägele mit einem Bild von der Weißenhofsiedlung und dem Abbruch des alten Stuttgarter Bahnhofs. In der Landschaft begegnen ebenfalls Fabriken, (neo-)romantisch bei Georg Scholz und Georg Schrimpf, blut- und bodenhaltig in Werner Peiners Bauernidyll, und in die menschenleere Räumlichkeit gezogen bei Alexander Kanoldt.

 
Was ist „Neue Sachlichkeit“?  

Vor einigen Jahren hätte ich das noch nicht gewusst. In meinem Studium verbrachte ich einige Semester in München. Am Lenbachhaus kam man mit ein bisschen Kunstinteresse nicht vorbei – so prägte sich mein Verständnis vom ersten Viertel des 20. Jahrhunderts: Der Blaue Reiter, Gabriele Münter, Alexej Jawlensky, Paul Klee und nicht zuletzt Wassily Kandinsky – Expressionismus mit der Entwicklung zur Abstraktion. Dass es parallel dazu nach dem Ersten Weltkrieg die fast gegenteilige Tendenz zu einer verschärften Dinglichkeit gab, war mir lange Zeit entgangen.
Wie so oft in der Kunstgeschichte lassen sich die verschiedenen Stile einzelner Künstler trotz einer gemeinsamen Tendenz nur schwer unter einem einheitlichen Begriff fassen, weshalb ganz verschiedene Ansätze versucht wurden: Verismus, Magischer Realismus, Neo Realismus, Neuromantik … oder eben Neue Sachlichkeit – mir schwirrt der Kopf. Alle wollen etwas von dem Übergreifenden und Verbindenden der nachexpressionischen Malerei umschreiben. So einfach ist es eben doch nicht, das Gemeinsame dieser Kunst auf den Punkt zu bringen. Und tatsächlich hat die Ausstellung von 1925, der Gustav Hartlaub den Titel „Die Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ gab, den Epochenbegriff durchgesetzt. Und das obwohl der Untertitel unpräzise die andere Linie zur Abstraktion nicht mit im Blick hatte, wie das Vorwort des Katalogs eingesteht: Der „Querschnitt (…) läßt die Kunst der abstrakten, ‚konstruktivistischen‘ Richtung beiseite“ (310). Was also ist Die Neue Sachlichkeit in den Augen des Mannheimer Kurators?

„Was wir zeigen, ist gekennzeichnet durch das (…) Merkmal der Gegenständlichkeit, mit der sich die Künstler ausdrücken. Zwanglos ergeben sich zwei  Gruppen. Die einen – fast möchte man von einem ‚linken Flügel‘ sprechen – das Gegenständliche aus der Welt aktueller Tatsachen reißend und das Erlebnis in seinem Tempo, seinem Hitzegrad herausschleudernd. Das andere mehr den zeitlos-gültigen Gegenstand suchend, um daran im Bereich der Kunst ewige Daseinsgesetze zu verwirklichen. ‚Veristen‘ hat man die einen genannt, Klassizisten könne man fast die anderen nennen.“ (310).

Zu dem linken Flügel zählen Künstler wie Max Beckmann, Otto Dix, George Grosz und Georg Scholz, deren harte Zeitkritik und überzeichnenden Ausdrucksformen eine eigene Kategorie darstellen. Ausnahmslos wurden deren Bilder nach 1933 als entartete Kunst deklassiert – die Künstler selbst mussten fliehen oder in die innere Emigration gehen. Zum rechten Flügel können Franz Lenk, Alexander Kanoldt, Werner Peiner, Rudolph Schlichter und Georg Schrimpf gezählt werden. Ihre Inszenierungen nach klassischem Vorbild mit stilisierender Vergegenständlichung durch Typisierung war anschließbar an Körperkult und Nationalismus der Zeit. Viele dieser Gruppe machten im Kunstbetrieb des NS-Regime Karriere, groteskerweise obwohl einige ihrer Kunstwerke als entartet galten.
Wichtiger noch als die kunstgeschichtliche Einordnung war dem Kunstdirektor Hartlaub, der von den späteren Entwicklungen noch nicht viel wissen konnte und selbst davon hart betroffen war, dass die Kunst nach Krieg und Inflation immer noch „l e b t“ und sich „in der Katastrophe auf das besinnt, „was das Nächste, das Gewisseste und Haltbarste ist: die Wahrheit und das Handwerk“ (310). Große Begriffe – wenn man sie etwas heruntertransformiert, geht es um eine technisch präzise am Gegenständlichen arbeitende Generation von Künstlern, die im Alltäglichen das Typische und Besondere suchten oder auch das Groteske.

KünstlerInnen und Bildgattungen

Bei gut 120 KünstlerInnen, welche die neue Ausstellung präsentiert, kann es nur eine subjektive Auswahl sein, auf die ich eingehe, um ein ungfähres Bild von der Bandbreite der Neuen Sachlichkeit zu zeichnen.   

Max Beckmann – Vergeistigung und Natur
Für Hartlaub war Max Beckmann (1884-1950) die zentrale Gestalt der neuen Bewegung, weshalb er ihn mit 5 Gemälden in die Ausstellung von 1925 aufnahm (9 weitere kamen nach der Eröffnung hinzu) und dem Künstler 1928 eine eigene Werkschau (über 100 Gemälde) ermöglichte. Die Begeisterung des Kurators ist spürbar, wenn er schreibt: „Hier ist Ausdruck in höchster Potenz und dabei doch die volle Rundheit einer lebendigen Natur. Vergeistigung wie noch nie, und doch Natur, so fest und stark und rassig wie bei Signorelli, Dürer, Michelangelo“ (30). Vielleicht ein bisschen überhöht – für mich ist erkennbar, dass die Gemälde Botschaften vermitteln, das Geistige, durch die besondere Art, wie sie komponiert und überfiguriert sind, während sie gleichzeitig im Partiellen sehr realistisch, naturgemäß bleiben. Mit seiner Wahl sollte Hartlaub recht behalten – Max Beckmann gilt heute als einer der bedeutendsten Künstler der Klassischen Moderne.
Die Gewaltlosigkeit – eine Reaktion auf die Kriegserfahrung – vermittelt „Jesus und die Sünderin“ (1917/18). Die Hände Jesu sind ausdruckstarke Symbole wie auch das Gesicht des Mobs, die Haltung des Schriftgelehrten und die Unterwerfung der Sünderin. Frauen sind überhaupt wichtig bei Max Beckmann, die Schwiegermutter, seine Ehefrauen – in drei der ausgestellten Bilder festgehalten. Besonders: „Fasnacht“ (1925) mit der zweiten Ehefrau Mathilde als Artistin und einem Musiker im Gesicht verhüllt in unnatürlicher Pose. Drei typische und „wichtige Motive“ (30) des Künstlers, wie der Katalog verrät: erotisch dominantes Verhältnis von Frau zu Mann, Selbstbildnis und Zirkus. Interessant auch der „Rugbyspieler“ von 1929. Sport als neues Sujet, als Drunter und Drüber in vertikaler Ausrichtung zum 3,4 m Pfosten.

Wenn man dies alles – den ganzen Krieg, oder auch das Leben nur als eine Szene im Theater der Unendlichkeit auffasst, ist vieles leichter zu ertragen.“ (Beckmann, 30)

 
George Grosz – Fratzenspiegel

1893 in Berlin geboren, eigentlich als Georg Groß, aber wie viele kam er als Kriegsgegner von der Front nach Hause und wollte sich provokativ vom Deutschen Reich mit englischem Namen abgrenzen. Und genau so sind auch seine Bilder in der Zeit von 1917 bis Ende der Zwanziger: schonungslos provokativ.
In einem Stilmix aus Expressionismus, Kubismus, Futurismus und seiner eigenen Prägung malt Grosz mit „Leichenbegräbnis“ (1917/18) das teuflische Treiben der Stadt in Rot – ein „Protest gegen die Menschheit“, die verrückt geworden ist“, wie er selbst kommentiert. Mit Anleihen an die leeren Plätze mit wenigen formalisierten Menschen in der italienischen Pittura metafisica ist sein „Grauer Tag“ (1921) eine Kontrastierung von Kriegselend und Beamtentum – zwei groteske Gegensätze in der Gesellschaft; gestaltet in zwei überzeichnet typischen Figuren, dem verstümmelten Veteranen und dem überkorrekt rundlichen Buchhalter. Gefallen hat mir auch das Selbstbildnis aus dem Jahr 1928 – ein geläuterter Maler mit Pfeife, der ernüchtert seinen Protest nach Innen kehrt.
Der Verfolgung als entarteter Künstler entging Grosz durch seine frühe Emigration 1933 nach Amerika, wo er weiter erfolgreich malte, aber bis heute für seine Werke aus der Weimarer Zeit bekannt blieb.

Der Verist hält seinen Zeitgenossen den Spiegel vor die Fratze. Ich zeichnete und malte aus Widerspruch und versuchte durch meine Arbeiten diese Welt davon zu überzeugen, dass sie hässlich, krank und verlogen ist.“ (George Grosz, 1925, 51)

 

Otto Dix – Erfinder der neuen Sachlichkeit
Als gelegentlicher Stuttgarter Kunstgänger ist Otto Dix ein alter Bekannter. Das Kunstmuseum besitzt die größte Sammlung seiner Werke, obwohl er selbst nie in Stuttgart gelebt hat. Geboren ist Otto Dix 1891 in Gera, studierte ab 1910 an der Kunstwerbeschule in Dresden, von 1914-18 als Soldat an verschiedenen Fronten, dann Stationen in Düsseldorf, Berlin und wieder als Lehrer an der Kunstakademie in Dresden, die mit der Machtergreifung der Nazis beendet wurde.
Am bekannteste von ihm ist vermutlich das Großstadt-Triptychon von 1927/28 und sein Gemälde der damals für ihre erotisch-exzessiven Tänze berühmte Anita Berber (1925), das auch in Mannheim ausgestellt war. Die Absicht seiner Kunst beschrieb Otto Dix prägnant: „ich wollte die Dinge zeigen, wie sie wirklich sind“ (40), was bedeutet, dass er mehr von der Wirklichkeit beschreibt, als äußerlich sichtbar ist. Die erst 26jährige Berber malt Dix als alte Frau, die von ihren Lastern bereits am ganzen Körper gezeichnet ist – ihren Tod durch Drogenabusus vorwegnehmend. Zugespitzt. Typisch für Dix ist die Darstellung von Huren wie im „Salon“ (1921) und Portraits, die mit wenigen Ausnahmen (Selbstbildnisse und seiner Frau) immer eine überzeichnete, verschärfte Wirklichkeit präsentieren. Ausdrucksstark die beiden Jungen, „Arbeiterjunge“ (1920) und „Der Streichholzhändler“ (1927).

Kunst machten die Expressionisten genug. Wir wollten die Dinge ganz nackt, klar sehen, beinahe ohne Kunst. Die Neue Sachlichkeit, das habe ich erfunden“ (Otto Dix, 40).

 
Georg Scholz – unterschätzter Professor

Mein Favorit ist der in Wolfenbüttel 1890 geboren Georg Scholz, der immerhin mit 9 Gemälden an der aktuellen Mannheimer Ausstellung beteiligt war und mit 7 an der ursprünglichen. Das Spektrum des 1925 an die Badischen Landeskunstschule in Karlsruhe zum Professor Berufenen ist wirklich breit. In der ganz eigenen, unverkennbaren Interpretation des Verismus karikiert er Politik, Gesellschaft und badische Dorfidylle. Die vereinfachende Darstellung von Häusern, Straßen, Menschen in „Deutsche Kleinstadt bei Tage“ (1922) reduziert auf das Wesentliche und entblößt auf diese Weise das bürgerliche Leben in seiner Trivialität. Ein weiterer Teil seines Spektrums zeigt sich in Aktgemälden, die leider nicht vertreten sind.
Highlight das „Selbstbildnis vor der Litfaßsäule“ (1926): das für die Epoche so typische detailgenaue Portrait, das doch leicht verfremdend in den modernen städtischen Zeitkontext gestellt ist mit Werbeplakaten, Mercedes im Autohaus und Tanksäule. Das Stillleben „Kakteen und Semaphore“ (1923) ist raffiniert komponiert – grüne Sukkulenten mit Glühbirnen auf dem Tisch vor dem Fenster, das die Perspektive auf eine Signalanlage der Eisenbahn hinter Büschen eröffnet. Nach 1923 dann eine Phase mit neo-romantischer Malerei – „Landschaft bei Berghausen“ (1924/25): Blick des Wanderers (Hut und Bierflasche im schattigen Vordergrund) auf Industrieanlage und Eisenbahn vor flächig gemalten Äckern, Wiesen und Hügeln.
Angewandt ist in diesem Bild mindestens einer von den „Gegensätzen“, mit denen Scholz „Wirkung“ erzeugen will, wie er selbst in einer kunsttheoretischen Abhandlung schreibt: „Naturalistisches Detail – dekorative Fläche: Das Detail dient zur Verstärkung und Betonung des Ausdrucks. Eine gleichmäßig detaillierende Ausführung aller Teile des Bildes würde die Bedeutung des Details als Ausdruck aufheben. Es entstünde eine Art Miniaturmalerei. Erst durch die gegen das Detail gesetzte dekorative Fläche erhält es seine Wirkung“ (Scholz 80, 81). Genau dieses Prinzip zeigt sich in den nur dekorativ als einheitliche Fläche umgesetzten Äckern, Wiesen, Dächern im Kontrast zu den detailgenauen Wolken, Bäumen und Eisenbahnsignalen, die auf diese Weise hervorgehoben werden. Eine typische Malweise des Künstlers.

Die Wiki-Eintrag ist unendlich kürzer als von Max Beckmann oder Otto Dix, aber das Werk von Georg Scholz fasziniert mich sehr.

Die Künstler müssen sich aus den heiligen Fachkreisen heraus begeben und das Volk, die Gegenwart, die Tatsachen des Lebens und der Geschehnisse suchen. Es müssen neue, interessante (!) Bilder geschaffen werden, in deren durch den Expressionismus wiedergewonnenen Raum mit der Sachlichkeit der Gegenwart erfüllte Gegenständlichkeiten hineingebaut werden, vollständig unbekümmert um alle ‚Errungenschaften‘ und ‚Qualitäts-begriffe‘ des Im- und Expressionismus.“ (Scholz 63 f.). 

 

Münchner Neuklassizisten –  Portrait, Stillleben, Landschaft
Die von Gustav Hartlaub dem „zeitlosen“, vielleicht rechten Flügel zugerechneten Künstler der Neuen Sachlichkeit gruppierten sich in München um Alexander Kanoldt und Georg Schrimpf, die zusammen 27 von 124 Werke für die Ausstellung von 1925 beisteuerten.
Georg Schrimpf, 1889 in München geboren, lernte Bäcker, ging auf die Walz und erarbeitete sich als Autodidakt ein Ansehen als Maler, wurde 1926 als Lehrer an die Kunstgewerbeschule in München berufen, 1933 von den Nationalsozialisten als Professor an der Staatlichen Hochschule für Kunsterziehung in Berlin ernannt, aber 1937 abgesetzt wegen seiner früheren Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei und einer aktiven Rolle in der Münchner Räterepublik.
„Stilleben mit Katze“ (1923) war berühmt. Typisch die vereinfachende Farb- und Formgebung bei partiell hoher Präzision – etwa beim Muster des Küchentuchs. Noch weitere getrieben ist das Prinzip der Vereinfachung bei seinen Mädchen- und Kinderbildern („Knabe mit Kaninchen“, 1925), die gleichzeitig typisierend, naiv und in Einzelheiten lebendig wirken, während die späteren Landschaftsbilder (z.B. „Moorlandschaft“, 1929) wieder klassisch realistischer werden, ein „Ort romantischer Sehnsucht“ (234).  
Alexander Kanoldt stammt aus Karlsruhe (1881 geboren), wurde an der heimatlichen Kunstakademie ausgebildet, gründete die Neue Künstlervereinigung München (später Blaue Reiter) und die Münchener Neue Secession mit und war ab 1926 Professor an der Kunstgewerbeschule Breslau, ab 1933 an der Staatlichen Kunstschule zu Berlin. Er starb 1939 in Berlin. Sein Stil wurde als Magischer Realismus bezeichnet. Typisch das „Stillleben II“ (1925) mit aufgeladener Symbolik (roter Vorhang, zwei Spielkarten) und seine menschenleeren Gemälde italienscher Kleinstädte mit geometrischen Flächen („San Gimignano“, 1922), die dadurch übernatürlich stimmungserzeugend wirken.
Mit beeinflusst von Schrimpf und Kanoldt in München waren Heinrich Maria Davringhausen (1894-1970), Adolf Erbslöh (1881-1947), Carlo Mense (1886-1965) und Walter Schulz-Matan (1889-1965), die in der Ausstellung ebenfalls mit Werken vertreten sind. Beachtenswert „Der Schieber“ (Darvinhausen, 1920/21) und „Familienbild“ (Mense, 1925).

Unerbittlich sind die Türme, unheimlich die Stad[…] allenthalben hockt das Gespenst der Vergangenheit und läßt uns nicht mehr aus den Augen: wir fühlen es ständig auf uns gerichtet – es sorgt dafür, daß wie nicht froh werden und uns selbst am hellen Mittag fröstelt.“ (1921, Alexander Kanoldt, 235).

 

Das Bild der Frau und die Künstlerinnen
Die selbstbewusste Frau mit Bubikopf und Zigarette gilt gemeinhin als Symbol der veränderten Rolle der Frau in den Zwanzigern. Das Wahlrecht, die berufliche Perspektive als Angestellte, der Stummfilm mit weiblichen Stars und die Enttabuisierung von Sexualität hatte vieles verändert – zumindest in den Städten. Carl Walthers „Frau mit Zigarette“ (1926) und Karl Hubbuchs „Lizzy im Café“ (1930-32) legen davon ebenso Zeugnis ab, wie Gerta Overbecks „Bildnis Toni Overbeck“ (1926). Den Aspekt der modischen modernen Frau heben die beiden Berliner Künstlerinnen Jeanne Mammen und Dörte Clara Wolff (Dodo) hervor mit „Die Pause“ (1929), einer Darstellung von Angestellten beim Mittagstisch, und „Logenlogik“ (1929), eine im Stil der Modemagazine gezeichnete mondäne Frau in der Oper. Mammen illustrierte übrigens die erste Ausgabe von ➛ Curt Morecks Führer durch das lasterhafte Berlin.
Die Kehrseite der Situation der Frau in diesen Jahren ist leider nicht glamourös, sondern eher finster. Nicht umsonst wurde die Prostitution vielfach portraitiert, oft von Otto Dix oder auch von Rudolf Schlichter, dessen Frau aus diesem Milieu stammte: „Speedy mit Katze“ (1929). Armut, Wirtschaftskrise und ein streng geahndeter § 218 war für Mütter mit ihren zahlreichen Kindern eine kaum bewältigbare Belastung, angedeutet etwa in Hans Grundigs „Am Stadtrand“ (1926).
In der ursprünglichen Ausstellung von Hardlaub war, wie bereits erwähnt, keine Frau vertreten und keines der Werke zum neuen Frauenbild, die aktuell in Mannheim gezeigt wurden. Vielleicht auch ein kleiner Hinweis darauf, dass sich die Rolle der Frau vornehmlich in den großen Metropolen verändert hatte, unwesentlich aber in der Gesamtheit der Republik, weshalb es in einer Kunstausstellung nicht den Geschack der antizipierten Besucher traf.

  
Stadt und Industrie

Last but not least und wirklich neu und passend ist in der Neuen Sachlichkeit die Darstellung aller Aspekte der städtischen Zivilisation jenseits der klassischen Stadtvendute. Keine üblichen Sehenswürdigkeiten werden gemalt, sondern Unorte wie Gefängnisse, Baustellen, Werbung an den bröckelnden Fassaden und Fabriken fanden Eingang in die Kunst. Beispielhaft Gustav Wunderwalds „Fabrik von Loewe & Co (Moabit) von 1926, Wilhelm Scharrenbergers „Französisches Stadtbild“ (1928) und Carl Grossbergs „Stahlskelett“ (1935). Interessant dabei die ungewöhnlichen und ausschnitthaften Perspektiven. Ebenso bezeichnend für die Stilpoche ist auch das Aufgreifen der modernen Technik. Telegrafenmasten, Bahndämme und -übergänge, Brücken, Bahnhöfe, Straßen, Schornsteine, Kessel und Rohre, ganze Industrieanlagen und Fabriken wurden genauso zum Motiv wie Straßenbahnen (die „Elektrische“), Züge, Dampfmaschinen, Flugzeuge und das Automobil.  Mit dabei Ewald Schönbergs „Scheinwerferlicht“ (1930), das den Blick dem Strahl des Lichts folgen lässt, „Bahnwärterhäuschen“ von Georg Scholz (1925) – unbeschreiblich – und „Station SD/2“ (1933) von Max Radler mit seiner einsam geometrischen Stimmung.

Katalog

Selten war ich so angetan von einem Ausstellungskatalog, der von den beiden HerausgeberInnen Inge Herold und Johann Holten gestaltet wurde. Neben dem vollständigen Abdruck der präsentierten Werke sind auch der historische Katalog von 1925, eine fachlich spannende Einleitung, diverse Einführungen zu Künstlern, Gattungen und zentralen Bildern aufgenommen, wie auch einige Beiträge zur Nachgeschichte im Nationalsozialismus und dem europäischen Umfeld. Auf deutsch und englisch. Alles rundum gelungen. 

Herold, Inge; Holten, Johan: Die Neue Sachlichkeit. Ein Jahrhundertjubiläum, Deutscher Kunstverlag 2025, 408 Seiten.

Scholz, Georg: Schriften, Briefe, Dokumente. Herausgegeben von Karl-Ludwig Hofmann und Ursula Merkel in Zusammenarbeit mit dem Mannheimer Kunstverein, Info Verlag GmbH 2018, 657 Seiten.

Bildnachweis: Die Rechte der Fotografien von der Ausstellung selbst liegen beim Autor. Die Bilder von den Gemälden wurden entweder vom Ausstellungskatalog abfotografiert oder von der Dokumentation der Ausstellung auf der Webseite von der Kunsthalle Mannheim übernommen. Die Rechte der Gemäldefotografien liegen damit vollständig bei der Kunsthalle Mannheim. 

Links:

Kunsthalle Mannheim – dort ist ein digitaler Rundgang auch nach der Ausstellung angeboten.

 
Die Neue Sachlichkeit
Ernst Toller: Quer
Söderström Phototagebuch
Clärenore Stinnes
Eugen Eberle
Volker Ullrich
Margarethe Ludendorff
Adolf Hölzel
Adolf Hölzel
Margarethe von Wrangell
Theordor Heuss: Erinnerungen 1905-1933
Rudolf Braune: Das Mädchen an der Orga Privat
Thomas Ziebula: Der rote Judas
Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland
Volker Weidermann: Das Buch der verbranten Bücher
Sebastian Haffner: Die Geschichte eines Deutschen
Sebastian Haffner: Von Bismarck bis Hitler
Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
Hans Fallada: Kleiner Mann - was nun?
Kurt Tucholsky: Literaturkritik
Paul Gurk: Berlin
Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen
Irmgard Keun: Gilgi eine von uns
Volker Kutscher: Der nasse Fisch
J.C.Vogt: Anarchie Deco
Curt Moreck: Ein Führer durch das lasterhafte Berlin

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