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Die erste Stuttgarter Professorin

Fürst Wladimir Andronikow: Margarethe von Wrangell. Das Leben einer Frau. 1876-1932

Es klingt nach einer Sensation für die schwäbische Landeshauptstadt des Volksstaat Württemberg: Die erste Frau im gesamten Deutschen Reich, eine 46-jährige, promovierte Chemikerin, wird 1923 zur ordentlichen Professorin berufen, an die Hochschule in Stuttgart Hohenheim.
War das Ländle so fortschrittlich in Sachen Emanzipation, dass es dort zu diesem ersten Fall einer universitären weiblichen Besetzung kam? – Schön wär´s. Leider scheinen es vorwiegend wirtschaftspolitische Ränkespiele gewesen zu sein, die zu dem besonderen Umstand geführt haben.
War Margarethe von Wrangell wenigstens eine Lichtgestalt der Geschichte, die ihren Ehrenplatz zur Recht errungen hat? – Vielleicht: Wir wissen das meiste über sie nur aus der Biographie, die ihr späterer Ehemann Fürst Wladimir von Andronikow verfasst hat und ihr edles Wesen aus womöglich nicht ganz selbstlosen Motiven hervorhob. Zeitzeugen aus Hohenheim wissen über die Professorin nicht nur Gutes zu berichten.
All das macht ihre Biographie für mich umso interessanter. Und vorweg: Die vielen Gedanken, die aus den persönlichen Tagebucheintragungen sprechen, zeigen so eindeutig eine zielstrebige, fortschrittlich denkende und geistreiche Frau, die ihr sensibles Inneres vor der Öffentlichkeit zu verbergen wusste, dass ich dem präsentierten Bild durchaus in den wichtigsten Punkten Glauben schenke.

In einem mit 17 Jahren verfassten Märchen projiziert Maragrethe von Wrangell ihr eigenes Schicksal, das unvollendet blieb.

„Sie hatte gesehen, dass das Höchste, was die Menschen erreichen können, ein wenig äußerer Ruhm ist oder ein wenig reine Liebe. Sie hatte beides genossen und hungerte nach wie vor .“ ( 57)

Lebensgeschichte nach Andronikow

Wer Margarethe von Wrangell war, lässt sich anhand der biografischen Zusammenstellung aus Briefen, Erinnerungen der Mutter und den persönlichen Tagebucheinträgen recht gut nachvollziehen. Und ja, das wirkt wie eine absolut beeindruckende Karriere für eine Frau in dieser Zeit. Mich hat die Lebensgeschichte so sehr fasziniert, dass die Darstellung etwas ausführlich geworden ist.

 

Kindheit und Bildung

1876 an Weihnachten geboren, als Tochter eines adligen Generals deutsch-baltischer Herkunft, wächst sie in Russland auf (Moskau, Ufa, Reval/Tallinn). Von ihrer Mutter liebevoll Daisy-(chen) genannt, wird sie als außergewöhnliches Kind unter den vier Geschwistern beschrieben, „charakteristisch, dass sie niemals klagt, sondern sofort auf Abhilfe denkt und auch nach Kräften handelt“ (25). Mit zwei Jahren erkrankt sie im kalten Moskauer Winter an einer Nierenentzündung, die sie ihr Leben lang beeinträchtigen wird. Diese Kränklichkeit hinderte nicht ihrem „Drang ins Freie“. In den Erinnerungen der Mutter, Baronin Ida von Wrangell, ist es diese Rückschau auf die Verbundenheit mit Natur und Pflanzen, die Margarete auszeichnet: „Daisy verschwand täglich im Wald und kehrte zurück, überladen mit Pilzen, Beeren, wilden Kirschen, ’seltenen‘ Blumen und Zweigen ‚edler‘ Baumsorten“ (36).
Während die großen Schwestern eher traditionellen Werten nachhingen, entwickelt sich Margarte zu „einem Menschen der Initiative, der Entdeckung und des Fortschritts“ (38).
Ihr Wissensdrang ist groß, sie gilt als „ehrgeizig“ (45), „fix, gewandt und dabei zart und sehr mädchenhaft, wurde sie die ‚Elfe‘ genannt “ (47), lernt Sprachen genauso leicht wie „Arithmetik und Naturkunde“ (53). In die Biographie sind Gedichte eingestreut, die durchaus sehr geistreich wirken. Mit 12 Jahren verliert sie ihren Vater, zuvor ist bereits eine Schwester gestorben – alles Geschehnisse, die sie hinnimmt, sich aber nicht davon beirren lässt.
1894, mit 17 Jahren, verließ sie die Howensche Schule mit „ausgezeichnet“ (65), fasste „den Wunsch, es zu ‚Etwas‘ zu bringen, offiziell diplomiert zu werden“ und besteht noch im gleichen Jahr das Lehrinnenexamen, einer der wenigen damals für Frauen möglichen Abschlüsse. Bis 1904 unterrichtet von Wrangell an verschiedenen Schulen oder gibt Privatunterricht, reist ins Ausland (Deutschland, Schweiz), nimmt selbst Malstunden, liest Homer im Original, gründet im „patriarchalischen Reval“ einen „Frauenclub“ (79) und organisiert Kurse in Naturwissenschaften für „Schülerinnen“ (103). Sie beschäftigt sich mit Religion, Philosophie Naturgeschichte und Kaligraphie (86) und der Wunsch reift in ihr, zu studieren, am liebsten Mathematik.

1898 verschlechtert sich bei ihrem Bruder Nikolai der Gesundheitszustand dramatisch: Tuberkulose im Endstadium. „Sein einziger Traum war, Student zu sein.“ (98). Schon immer wollte er Chemie studieren. Margaretes Verhältnis zu ihm war sehr eng, sie nennt ihn ihren „einzigen Helden“, der schließlich für seinen Traum in Zürich stirbt. Vielleicht ist es keine allzu gewagte Interpretation, dass es dieses Vermächtnis aus Trauer und Schuld ist, das Margarete aufrüttelt und ihre Neigung zum Chemie-Studium verstärkt, wenn auch die Umsetzung des Vorhabens noch bis 1904 warten muss aufgrund von Krankheit und ihrem angefüllten Leben, das neben ihrer Lehrtätigkeit „durch Geselligkeit, Sport und künstlerische Interessen“ (100) bestimmt ist.

 

Studium und Promotion (1904-1909), Studentinnen an der Hochschule

Die Wahl des Studienortes ist nicht leicht. An der „Universität in Greifswald studiert keine Frau“, die „Abneigung der Professoren und Studenten gegen die studierenden Frauen“ ist in Deutschland groß, nur im Süden gibt man sich offener. Heidelberg etwa „hat von allen deutschen Universitäten die größte Anzahl an studierenden Frauen“ (132 f.), schreibt ihr eine Professor. Es wird Tübingen, aus besonderen Gründen.
Das erste Mädchen-Gymnasium Württembergs, das 1899 geründete Hölderlin in Stuttgart, hatte ab 1903 seine ersten Abiturientinnen entlassen, „die in Tübingen unter den denkbar günstigsten Verhältnissen aufgenommen wurden“ (137). Die junge Margarete findet sich mit dieser Wahl in bester Gesellschaft.
Ihre Mutter, die 1904 mit nach Tübingen zieht, beschreibt es eindrücklich. „Man kann sich heute kaum mehr eine Vorstellung davon machen, welchen Staub es aufwirbelte, als diese ersten Abiturientinnen mit vorschriftsmäßiger Vorbildung (…) ihren Einzug in die alten Universitätsstadt hielten.“ Alle waren „sehr erstaunt, normale junge Mädchen zu erblicken, von denen keine einzige eine Brille trug, die gekleidet waren wie die übrige Frauenwelt und (…) alle blühend, gesund und frisch aussahen“ (137).
Die „Straßenwalze der Frauenbewegung“ war “ in Betrieb gesetzt“ (142) . „Nicht Vermännlichung erstrebten sie“ ergeht sich die Mutter in ihren Erinnerungen weiter, sondern die „Vollendung ihrer weiblichen Eigenart“; „als ausgebildete weibliche Persönlichkeiten hofften sie, erworbene Werte später fruchtbar und segensreich in Familie oder Beruf umsetzen zu können“ (142).
Margarethe – in ihren persönlichen Aufzeichnungen – sah es nüchterner und hebt auf die bestehenden konservativen Tendenzen ab: „Studenten gibt es hier ungefähr 1400 und fast alles verstümmelte Korpsburschen mit Hunden. Damen sind es bis jetzt nur drei, hoffentlich Antiduellantinnen“ (138).
In Tübingen trifft die in der Weite Russlands geborene Baltin auf die Provinz, steht auf der Neckarbrücke „und fragt, wo denn der Neckar sei“ (142). Als „stud. rer. nat.“ besucht sie Botanik, langeweilt sich bei der Histologie und Mikroskopie, und favorisiert die Chemie. „Ich finde, die Chemie hat so etwas Klassisches; die Reinheit und Schönheit der Formeln, ohne die Starrheit der mathematischen Zahlen“ (150).
Ihre knapp bemessene Freizeit nutzt sie für Ausflüge in die Umgebung, z.B. für eine damals schon übliche Tour mit dem Fahrrad an den Bodensee, „selbst erstrampelt“ (151), was mit einem Platten bei Schaffhausen (151 f.) endet. Eine „erste alpine Leistung“ (155) erbringt sie beim Skiwandern auf dem Säntis mit Lawinenabgang. Margarete wie ihre Mutter sind begeistert vom Tübinger Weihnachtsfest und -markt.
Nach kurzen Stationen im Stuttgarter „Laboratorium des Doktor Hundeshagen“ (152) und ein paar Semestern in Leipzig, verteidigt sie 1909 in Tübingen ihre Doktorarbeit in der Chemie erfolgreich und erhält die Höchstnote summa cum laude: „Isomerieerscheinug beim Formylglutaconsäureester und seinen Bromderivaten“ (161), ein 56-seitiges Werk.

Wissenschaftskarriere (1909-1918)

„Ich will versuchen, nach Erkenntnissen zu streben, und weiß, dass das Genießen nur schön ist, wenn es nicht unser Lebensziel bildet“ (66, von Wrangell mit 18 Jahren).

Gemäß ihrem Motto betreibt Margarethe von Wrangell mit unbändigem Fleiß ihre berufliches Vorankommen. Die Stationen seien kurz aufgezählt:  Tätigkeit als Assistentin an der landwirtschaftlichen Versuchsanstalt im estländischen Dorpat, ein Forschungsaufenthalt zur Radiologie (Thorium) in London, Universitätsassistentin in Straßburg, Forschung am Radium bei der weltberühmten Madame Curie in Paris. Insbesonder London, das für sie Modernität repräsentiert, hat es ihr angetan, wie auch das angenehme, „verschwenderische“ Leben in Paris: „ich schlürfe fast täglich ein Dutzend Austern und trinke einen milden Weißwein dazu“ (186). Gleichzeitig ironisiert sie ihre Rolle als Wissenschaftlerin: „Wenn ich auf meine Radiumtöpfe blicke, habe ich die Empfindung einer braven Hausfrau, die eben eingeweckt hat“ (189).
Ab 1912 tritt sie eine Stelle als Leiterin in der „Versuchsstation des Estländischen Landwirtschaftlichen Vereins“ in Reval an, ihrer alten Heimat, und arbeitet dort bis 1918, wobei sie eine eigene industrialisierte Düngemittelanlage („Ausbeutung der Phosphorsäurelager“, 239) aufbaut.
Während des ersten Weltkriegs „trat Daisy ins Rote Kreuz ein“ (223) und half bei der Versorgung von Verwundeten. Im Oktober 1917 erlebt sie die Eroberung durch die Revolutionsarmee Russlands und wird als eine der „Aristokratinnen (…), welche das Volk seit Jahrhunderten unterdrückten“ (232), fast umgebracht. Die Kommunisten mit ihrem „roten Terror“ (230) kommen in der Erzählung nicht gut weg. Im März 1918 erobern die Deutschen das Gebiet um Reval zurück, so dass die promovierte Chemikerin nach Hohenheim ausreisen kann, um ihre Studien fortzusetzen.

Hohenheim (bei Stuttgart) und Professur (1919-1932)

Die Erlebnisse des Krieges und der Revolution hatten meine Stellung zum Leben verändert; ich empfand das Leben nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit, ich empfand es als ein seltenes Geschenk, das man auszunutzen verpflichtet ist“ (241), schreibt Wangell 1929, als sie bereits auf eine enorme Leistung zurückblicken kann.
Nach dem Krieg waren die Arbeiten der Wissenschafterin begehrt, da der Handel für Phosphat-Düngemittel aus den umliegenden Ländern blockiert wurde und ihre Erkenntnisse über die Phosphataufnahme von Pflanzen neue Wege (z.B. durch Fruchtfolge und weniger Düngung) für die Landwirtschaft versprachen. An der Hohenheimer Hochschule für Landwirtschaft habilitiert sie 1920 über ihr Spezialthema.
In den darauf folgenden Jahren gibt sich die Prominenz  die Klinke in die Hand,  Minister, Wissenschaftler, Nationalökonomen, Industrielle und Presse, als hinge „Deutschlands ganze Zukunft an meinen Blumentöpfen“ (265). Dabei knüpft sie hochrangige Kontakte zur Wirtschaft, insbesondere zu  Fritz Haber (273 ff.), einem in Politik und Chemieindustrie einflussreichen Nobelpreisträger , der ihre Karriere entscheidend fördert, ein „großes Spiel“ (273) zu ihren Gunsten führt.
Warum? – Die „Phosphatsäurefrage“ (…) stand damals im Vordergrunde des ökonomischen und wissenschaftlichen Interesses“ (242), wie die Professorin selbst weiß. Es war fast eine Existenzfrage für die erste deutsche Republik, woraus sich erklärt, dass trotz schlechter Wirtschaftslage enorme Gelder aus Berlin flossen und das württembergische Landwirtschaftsministerium und die Hohenheimer Fakultät genötigt werden, Margarethe von Wrangell „ein eigenes Institut und ein Ordinariat (…) zu schaffen“ (242). Die Hohenheimer Hochschulakten wissen zu berichten, dass dieser Akt der Einflussnahme von den rein männlichen Kollegen gar nicht geschätzt, letztlich aber zu eigenem Vorteil umgesetzt wurde.
„Im Herbst 1923 war das Planzenernährungsinstitut nach meinen Plänen fertiggestellt; ich bezog es als erste weibliche Ordinaria Deutschlands“ (242).
Der Aufbau eines Instituts im Jahr der Hyperinflation in Deutschland ist zweifelsfrei eine unglaubliche Leistung, vieles musste mit eigens angestellten Schreinern und provisorisch gemacht werden. In den Folgejahren gelingt es ihr, die Forschung mit 16 Doktorarbeiten in internationaler (278) Besetzung weiter zu treiben.
Ein durchaus gut zu lesender Vortrag, der die Geschichte der Chemie umreißt, ist in der Biographe (206-216) abgedruckt und illustriert die didaktische Kompetenz. In der Lehre bemüht sie sich um einen guten Unterricht, und erdenkt sich „allerlei pädagogisch Zweckmäßiges aus wie Repetitionen und Übungen“ (292).
Trotz oder gerade wegen ihres Erfolgs wird die Professorin von vielen Seiten angefeindet, zuerst bestreitet man den Wert ihrer Forschungen, als sie dann allgemein Anerkennung findet, wird ihr vorgeworfen, diese sei ja nicht „neu“ (280) und sogar ein Plagiat. Trotz dieser „Kämpfe“ (282) und einer permanenten „Arbeitsüberlastung“ findet sie in dem „Wert“ ihrer Arbeit Trost und „Freude“ (282).
In einer Rückschau aus dem Jahr 1929 schreibt sie romantisierend: „Ich lebte mit den Pflanzen; ich legte das Ohr an den Boden, und es schien mir, als seien die Pflanzen froh, etwas über die Geheimnisse ihres Wachstums erzählen zu können“ (241).

Mitten in der Schaffenskraft ihrer Aufgabe erkrankt sie an einem schweren Nierenleiden, das sie bereits seit Kindheitstagen begleitete, und stirbt am 31. März 1932 mit 56 Jahren im Katharinenhospital in Stuttgart.

 

Der Mensch

Die Zwanzigjährige Margarethe schreibt in ihrem Tagebuch, dass „der Begriff ‚Leben‘ ein ausgeglichenes Konglomerat von Zahnschmerzen, Verliebtheit, Hunger, Sattheit, Sehnsucht nach den Toten, Sehnsucht nach dem Leben ist, und dass man sich am besten steht, je ausgeglichener alles ist“ (82 f.).

Baronesse und Respektsperson
Aus vielem ihrer eigenen Worte ist herauszulesen, dass sie eine recht nüchterne Art hatte im Umgang mit anderen, aber mit großen Themen in ihrem inneren rang. Daran allerdings lässt sie nicht alle teilnehmen: Die „anderen Mädchen nennen mich ja so oft herzlos, realistisch, philosophisch und tiefe Gefühle heuchelnd, aber ich glaube nicht, dass sie viel davon wissen, ich habe ihnen ja nie von Gefühlen geredet“ (98).
Die Härte und Schroffheit, die der Baronesse von den schwäbischen Hohenheimer unterstellt  (s.u. die Videos aus Hohenheim) und als Standesbewusstsein interpretiert wurden, könnten schlicht von ihrer Scheu herrühren, ihr Inneres zu präsentieren. In der Begegnung scheint sie mitunter spröde zu wirken, was ihre Mutter schon dem jungen Mädchen attestiert: „sehr charakteristisch für Daisy war die nervöse, etwas schroffe Bewegung, mit der sie ihren Kopf (…) wandte, wenn sie angesprochen wurde“ (48).

Das Urteil ihrer Freundin Lisbeth aus Reval, die ihr nahekam, lautet entsprechend anders: „Gleich bei der ersten Begegnung fiel ihr natürliches, offenes Wesen und die wohlwollende Heiterkeit auf, ebenso auch ihre Meisterschaft der Unterhaltung. (…) Gern und mit innerer Anteilnahme erzählte sie von den Tatsachen und Problemen der Wissenschaft. (…) ‚Wissenschaftliche Wichtigtuerei‘ hingegen war ihr fremd. (…) Eitelkeit mit Dummheit gepaart wußte sie doch mit feinem Spott zu geiseln“ (203).
Dazu passt Margarethe von Wrangells Selbstbild. Sie hadert oft mit den Ergebnissen ihrer Forschung, kritisiert ihre Antrittsvorlesung 1920 als „holprig“ (263) und scheut die „Öffentlichkeit und Weihrauch“ (259) wie die Pest.
Zielstrebig war sie mit Sicherheit, das bezeugen alle: „was sie tat, das tat sie ganz“ (204). Vor allem in Bezug auf ihr Vorankommen.
War sie letztlich mehr baltische Baronesse mit adliger Arroganz oder moderne Frau? – Ein berechtigte, aber in dieser Dualität eigentlich eine blöde Frage. Sicherlich war ihr ein luxuriöser Lebensstil vertraut (sie pflegt ihn in Paris und im Berliner Kempinski, 216) und die Führung von Personal. Gleichzeitig ist offensichtlich, wie selbständig sie agiert und sich über Konventionen hinwegzusetzen wagt, wie auch ihre Freundin bezeugt: „In ihrem ganzen Denken war sie selbständig und ursprünglich. Alle Arten von Vorurteilen lehnte sie ab. Ihre Abneigung gegen konventionell entstandene Ansichten und Urteile ging (…) weit“ (205). Einige witzig erzählte Passagen bestätigen das, etwa als Margarethe als junge Lehrerin mit einigen Kindern unterwegs ist und ein Frau kommentiert „noch so jung und schon so viele Kinder“, antworte sie – „… und die meisten aus der zweiten Ehe“ (107) – ein Fauxpas in dieser Zeit.

Kampf um Anerkennung
Wie schwer der Aufstieg einer Frau in dieser Zeit war, kommt deutlich heraus. Von Wrangell beschreibt den „Kampf“ mit „Verunglimpfungen“ (242) und betrauert ihre „isolierte Stellung“ (243). Sicherlich rühren einige der Aussagen von Zeitzeugen auf dieser Distanz, die durch die stellungsbedingte Einsamkeit und die ehrfurchtsvollen Haltung gegenüber der ersten Professorin getragen waren: “ Jetzt bin ich wieder ganz die unnahbare, ernste Fräulein Professor, und niemand unternimmt es, mich zu necken, wie du es tust, wobei ich immer lachen muß, und das ist sehr gesund“ (319).
Die späte Heirat (1928) mit ihrem Jugendfreund und entfernten Cousin Fürst Andronikow, war ihr eine Genugtuung, zeigte, dass sie nicht nur Frau des öffentlichen Lebens war, sondern auch in der gesellschaftliche anerkannten Rolle einer Frau ihre Erfüllung fand.

Da macht sich wohl der liebe Wladimir eine falsche Vorstellung von Fräulein Professor, die ihren eigenen Stil hat und über Modetorheiten hinaus ist … (…)
So bin ich denn eine ernste, äußerst objektive Frau der Öffentlichkeit. Von Bubikopf keine Rede, und die Brille trage ich freilich nicht so auf der Nase, aber in der Seele, und das ist schlimmer. . (301)

Doch diese Heirat war nicht nur eine persönliche Bereicherung und gesellschaftliche Anerkennung, sondern auch ein Problem. Als staatsbedienstete Frau durfte sie, wenn sie Bezüge beanspruchen wollte, nicht verheiratet sein. Mit ihren vielfältigen Beziehungen in die Politik löst sie auch dieses Problem.

Menschen- und Frauenrechte

„Sie fragte mich, was ich über die russische Regierung dächte. Ich antwortete, ich hätte mich mit Politik nicht beschäftigt, glaubte aber, dass ‚tout est merveveilleusement organisé“ (70).

Von Wrangell behauptet bescheiden von sich, dass sie „keinen historischen Sinn“ (160) besäße, als unpolitisch sei. Zwischen den Zeilen lese ich anderes heraus. Sie beschäftigt sich mit sozialen Ideen (z.B. Vortrag von Sozialisten Kropotkin, 171, oder Mitgliedschaft an einem sozialistischen Zirkel in Stuttgart, 250), ist von dem „Geist des Zusammenhalts“ (278) bei einer politischen Kundgebung in Berlin mit 100.000 Teilnehmern begeistert und setzt sich auf „internationalen Frauenkongressen“ (341) besonders für die Gleichstellung Deutschlands ein. Auch der Satz „Reichtümer will ich keine sammeln; das Geld gehört unter die Menschen“ (271), zeigt ihre für den Adel untypische antikapitalistische Neigung.

Schön ist auch Eröffnungsrede für ein Tübinger „Studentinnenwohnheim“, bei der sie herausstellt, „dass der Frau eine größere Lebensnähe zuzusprechen ist“ (348 f.) „Der neue und überraschende Typus der Frau ist doch eigentlich nicht die berufstätige Frau – das könnte ein Gebilde der Not sein -, sondern die von sozialem Verantwortungsbewusstsein erfüllte Frau“ (350).

In der politischen Beurteilung ihrer Zeit war sie durchaus präzise, was die letzten Zitate veranschaulichen mögen:

„Es vollzieht sich eine Umwandlung der Weltanschauung unter allen Völkern; das musste kommen nach diesem wahnsinnigen Kriege (…). Die Überzeugung, daß es gleich würdelos ist, andere Völker zu unterdrücken, wir selbst bedrückt zu werden, muss sich Bahn brechen, dann wird der Hass und der Chauvinismus schwinden und leise sich die Duldsamkeit und Menschenliebe wieder einstellen. (…) Ich glaube fest daran, daß die Menschlichkeit wieder einen guten gangbaren Weg findet (258 f.)

„Deutschland und die Deutschen sind durch den Krieg und die nachfolgenden wirtschaftlichen Verhältnisse moralisch nicht herauf-, sondern herabgestiegen. Der Geschäftssinn hat sich bis zur höchsten Potenz entwickelt, und jede Verhandlung wird dadurch zur Qual.“ (271)

„Ich glaube man verdirbt sich oft sein Leben durch zu vieles Denken und Grübeln.“ (93)

Schwaben und Stuttgart

Die illustrativen Bemerkungen in der Biographie über Stuttgart und das Ländle in der Zeit der Weimar Republik will ich nicht vorenthalten.

„… wie ja überhaupt in dem kleinen Schwaben die sozialen Gegensätze nie so schroff sind wie anderswo. Durch die Dezentralisierung der Industrie wurde der Arbeiter der Scholle nicht entfremdet. Der Landbesitz war vorwiegend in klein- und mittelbäuerliche Betriebe gegliedert. In der Altstadt von Tübingen lebte eine Bevölkerung, die zu einem großen Teil noch den Weinbau betrieb. Sie war derb und verfügte über einen ebenso schlagfertigen wie gepfefferten Witz, den sie in einem eigentümlich gefärbten Idiom vorbrachte“ (146 f).
„Speziell Schwaben ist ein liebes harmonisches Ländle, in dem sogar Spartakus und Schwerindustrielle einen Zug gutmütiger Bonhommie haben“ (254).

Als Margarethe von Wrangell 1918 nach Hohenheim zieht, wohnt sie zunächst in der „blitzblanken Villa Franziska“ (247) in Birkach, ein Gasthof, den es heute noch gibt, und genießt den berühmten Filder-„Kohl“ mit eigenem Rezept. Eine zweite schwäbische Wirtin kündigt ihr, weil sie zuviel Besuch hat – sicher nicht ganz untypisch.
Gesellschaftlich verkehrt sie „viel in Stuttgart“ (250), gehört zum „Rat der geistigen Arbeiter Württembergs“, eine soziale oder sogar sozialistische Gruppierung, und lernt dort den Dichter Manfred Kober und Anthroposophen Rudolf Steiner kennen, wobei um letzteren sich „ein urteilsloser, exaltierter Kreis wahnsinniger Hühner gebildet“ hat, der ihn ihr „verleidet“ (255). Die „Elsässer Taverne“, Treffpunkt von Intellektuellen und Künstlern in Stuttgart, dient als Lokalität, um die „Zeitläufte“ (255) zu besprechen. Eines Abends ist sie bei der Rückkehr aus der Stadt auf den Hügel zu spät dran. Als sie oben in Degerloch mit der Straßenbahn ankommt, fährt keine Zug mehr weiter. Sie muss den einstündigen Weg nach Hohenheim (269) zu Fuß antreten, den ich selbst übrigens schon oft gegangen bin.
Die Zeiten nach dem Krieg waren auch im Ländle schwierig. Eine Festmahl 1921 bestand aus einer grünen Suppe mit selbstgepflückten Kräutern (268) und Pfannenkuchen. Auch der Aufbau des Instituts 1923 wurde durch Widrigkeiten behindert. So musst eine „Hobelbank“ mit dem „Institutswagen“ (308) über die „neue Weinsteige“ heraufgeschafft werden – wer den Neigungswinkel dieser Straße kennt, weiß, welche Schinderei das gewesen sein muss.
Und ein Ausflug auf die nahe gelegene Schwäbische Alb: Der Hohe Neuffen wird von der Professorin bei „Schneesturm“ bestiegen – Ergebnis: „nasse Beine, Aussicht keine“ (293).

 

Würdigung und Kritik

Die Biographie wird erst 1935, also in der Nazizeit veröffentlicht, weshalb die Gedenkreden am Schluss des Buches einige Blut-und-Boden Verherrlichungen enthalten, mit denen ich mich gar nicht weiter beschäftigen mag.
Interessant wäre die Fragen schon, wie die pazifistisch eingestellte aber wenig politische Professorin sich zum Hitler-Regime verhalten hätte. Alles nur Spekulation, aber ich vermute, dass sie treu zu Deutschland in Pflicht gestanden hätte, obwohl ihre inneren Werte nicht mit den Nationalsozialisten in Einklang zu bringen waren. Eine Entscheidung ist ihr aufgrund ihres frühen Todes erspart geblieben.
Zu seiner Zeit war das Buch „ein Bestseller“, schreibt die Historikerin Szöllösi-Janze (S. 46), die sich kritisch mit der Biographie auseinandersetzt. Sicher zu Recht bemängelt sie die dürftige Quellenlage. Die von Fürst Wladimir Andronikow präsentierten Dokumente sind nicht anderenorts überliefert, manche zusammenfassenden Passagen, kleinere Quellen und Erinnerungen sind in ihrem Wahrheitsgehalt fraglich (z.B. das Dankesschreiben eines Londoner Professors). Beim Lesen fiel mir sofort der Unterschied zwischen den Texten des Autors auf (oder eines im Vorwort erwähnten Coautors), der die Ereignisse in ein besonderes Licht zu rücken versucht, und den in der Tonalität mitunter in Diskrepanz dazu stehenden Einträge Margarethe von Wrangel selbst. Blendet man diese „Zurechtrückungen“ aus, bleibt immer noch ein sehr stimmiges Bild der Person übrig, so dass ich die Kritik teile, nicht aber die starke Relativierung. Mag der Fürst sein Interesse haben, seine Pensionsansprüche in Württemberg geltend zu machen oder auch nur sich im Ruhm seine Frau zu sonnen, das Gesamtbild ändert es kaum.
Ob die Forschungen der Professorin auf einem „Plagiat“ beruhen oder in eine „Sackgasse“ geführt haben, sich letztlich als nicht richtig erwiesen, wie Szöllösi-Janze – wohlgemerkt als Historikerin – vermutet (S 46- 48), scheint niemand mit chemischen Sachverstand aufrichtig geprüft zu haben. Ich kann es nicht beurteilen. Bis 1932 war das Institut von Margarethe von Wrangell jedenfalls erfolgreich, was nach 1933 passierte, steht überall auf einem andern Blatt.
Dass Margarethe von Wrangell lange Zeit wenig Würdigung in der Wissenschaftsgeschichte erfahren hat, mag daran liegen, dass das Gebiet der Pflanzenlehre und die Hochschule in Hohenheim nicht im direkten Dunstkreis der großen Universitäten standen. Aus meiner Sicht ist die Leistung der baltischen Baronesse in Stuttgart durchaus sehr beachtenswert.

Angesichts der Kritik kurz die abschließede Frage: Könnte ich womöglich doch auf die geschickte Selbstdarstellung eines monetär motivierten baltischen Fürsten und Ehemanns hereingefallen sein, wenn ich von Margarete von Wrangell begeistert bin? – Als Historiker gibt mir die schlechte Quellenlage auch zu denken, aber als erfahrener Mensch sagt mir meine innere Stimme, dass die Dokumente trotz leichter Verfärbungen lebensecht wirken und Zeugnis von einer besonderen Frau ablegen.

 

Fürst Wladimir Andronikow: Margarete von Wrangell. Das Leben einer Frau. 1876-1932, Albert Langen/ Georg Müller Verlag 1935, 383 Seiten.

 

Links

Margit Szöllösi-Janze, Margit: Plagiatorin, verkanntes Genie, beseelte Frau? (2000) – Kritische Auseinandersetzung mit Margarethe von Wrangell.

Erste Ordentliche Professorin Deutschlands Margarethe von Wrangell. Filmdokumentation auf den Archiven der Hochschule Hohenheim (6 Kurzfilme) – durchaus sehenswert, vielleicht etwas einseitig.

Theodor Heuss: Margarethe von Wrangell, in: Deutsche Gestalten. Studien zum 19. Jahrhundert, 1947, 386-392. Eine kurze Biographie vom Altbundespräsidenten – liest sich nett.

 
Margarethe Ludendorff
Adolf Hölzel
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