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Lasterhaftes Berlin

Curt Moreck: Ein Führer durch das „lasterhafte Berlin“ (1931)

Berlin ist die Stadt der Gegensätze, und es ist eine Lust, sie zu entdecken. (…) Jeder einmal in Berlin! Auch im nächtlichen. Auch im halboffiziellen. Auch auf der anderen Seite, deren Sehenswürdigkeiten nicht vom Ausrufer der Rundfahrtwagen mit witzigen Glossen angekündigt wird. Aber man kommt hier nicht ohne Führer aus, (…) das nächtliche Berlin, (…) die in ihrem Dunkel vergleichsweise verwirrende Metropole des Vergnügens.“(12 ff.)

Was der Schriftsteller Curt Moreck (1888-1957) verspricht, hält er auch. Es könnte womöglich seltsam oder unpassend erscheinen, dass ich meine Rezensionen mit einem Reiseführer in das „lasterhafte Berlin“ beginne, aber dieses kleine Bändchen bietet einen einzigartigen Einblick in die unglaubliche Vielfalt dieser Stadt. Und das in einer Sprache, die weit ab von Vulgarität die Befriedigung der elementaren menschlichen Bedürfnisse beschreibt, dass es eine wahre Freude ist, mit Curt Moreck in diese Zeit und Welt einzutauchen.

Von Ost nach West, offiziell/ halboffiziell und Unterwelt

Wie von einem Reiseführer zu erwarten, erfahren wir, welche Vergnügungen den Besucher in den jeweiligen Straßen und Bezirken der Berliner Innenstadt im Jahr 1931 erwarten. Der Stern der berühmten Friedrichstraße war schon dahingeschwunden – die angesagten Varietés und mondänen Läden hatten  sich in den Westen hin zum Kurfürstendamm verlagert, rund um die Gedächtniskirche.
Zu den „offiziellen“ Vergnügungen zählt neben den großen Bällen, Rummelplatz und Kabarett vor allem das Ausleben des Tanzfiebers, dem man beim mittäglichen Tanztee und selbst am Wannsee frönen konnte, oder indem man sich in den abendlichen Trubel mit Jazzbands und Charleston stürtzte. Verabredungen von Tisch zu Tisch über Telefon oder – poetischer – per Rohrpost ließen sich unzensiert und einfach (und sehr amerikanisch) arrangieren.
Besonders Kinos, von denen Berlin mehr als hundert besaß, waren bereits zur Unterhaltung für die Massen geworden, wie überhaupt die „Industrialisierung des Vergnügens“ (99) durch den boomenden Tourismus um sich gegriffen hatte. Der „Provinzler“ wurde schnell zum Opfer von „Nepp“ (13). Man spielte den „Scharen der Gut- und Leichtgläubigen die Komödie vom ‚Sündenbabel Berlin'“ (20) vor.
Etwas ausgesuchter und für den geistigen Mensch tagte im Romanischen Café „in allen ihren Schattierungen, von der äußersten Rechten bis zu krassesten Linken, die Nationalversammlung der deutschen Intelligenz“ (35). Im Schwaneke traf man auf Literaturprominenz, weshalb man mit einer „Handgranate“ das „Ende der deutschen Literatur“ (115) hätte herbeiführen können.

Halboffiziell“ wurde es schon, wenn man in  Cafés und Bars unter Codewörtern Kokain bestellte oder sich zum Stelldichein in Separees einfand, die es allerorten gab und „Knutschlongen“ (61) genannt wurden und zu denen man auch das Pendant kaufen konnte. Die unzähligen Revuetheater, in denen die Girls aus keuscher Gymnastik ein erotisches Geschäft machen“ (24), war sicher noch harmlos, wobei es auch die Varianten gab, in denen „Kaskaden nackten Frauenfleischs unter Scheinwerferstrahlen über die Bühne geworfen“ (20) wurden und sich „hüllenlose (…) Schönheit“ (102) zeigte.

Komplett in die Halbwelt an der Grenze zur Illegalität bewegte sich der „Liebesmarkt“ (16), wo auch der „Ramschhandel“ immer mehr zunahm. Billige Prostitution war üblich, sadistische und perverse Formen bekannt  („Gefilde der gewalttätigen Venus“ 30, „Domina“ mit „Peitsche“ 31). Vor der derben Prostitution in der Münzstraße im Osten und deren dunklen „Kaschemmen“ wird eindringlich gewarnt. Und verschwiegen wird auch nicht, dass sich hinter den „weltstädtischen Kulissen die düstere Elendsquartiere“ (172) auftun.

Die echte Unterwelt, die organisierte Kriminalität in Gestalt der „Ringvereine“, traf sich am Anfang der Zwanziger noch in bekannten Lokalen, verschwand aber dann komplett vom Licht der Öffentlichkeit und war in Berlin als Tourist nicht mehr zu finden.

Jedem nach seiner „Fasson“

Natürlich war die Frau im Vergnügungsbetrieb Lustobjekt des Mannes. Trotzdem zeichnet Moreck ein beeindruckendes und scharfes Bild von der selbstbewussten modernen Frau, die weiß, was sie will, mit „Bubikopf und Kosmetik“ (26).
Fasziniert hat mich auch die offene Beschreibung der verschiedenen Spielarten der Sexualität.
Der Paragraph 275 (Verbot gleichgeschlechtlicher Liebe) war zwar voll in Kraft, wurde aber von den Behörden kaum geahndet. Die Prostitution hatte sich 1927 von der polizeilichen Aufsicht befreit und war geduldet (nur Kuppelei war strafbar) – zwei Voraussetzungen – egal wie man dazu steht -, die eine öffentliche Sichtbarkeit und Selbstverständlichkeit von Sexualität schufen.
Die Homosexuellenszene allein zählte an die 80 Lokale. Und auch der lesbische Liebe mit ihren nichtöffentlichen Clubs wird mit großem Respekt begegnet, ebenso den „Transvestiten“ (148), selbst wenn sie dank „Gummiproduktion“ einen „vollentwickelte[n] Busen“ (151) besaßen. Nur den Voyeurismus eines „inszenierten Transvestitenbetrieb“ (151) empfand der Autor als befremdlich.
In Berlin galt die „Toleranz“ nach dem Grundsatz „jedem nach seiner Fasson selig werden zu lassen, auch in der Liebe“ (127) – denn: „Die Natur irrt nicht, sie ist weiser als wir …“ (136).

Dieses Buch ist ein wunderbares Fanal für Liebe und Freiheit (ein bisschen getrübt durch die Selbstverständlichkeit von Prostitution).

Curt Moreck: Ein Führer durch das lasterhafte Berlin, btb Verlag 2020 (1931), 207 Seiten.

 
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