Ein Stuttgarter Kommunist

„Die schlaflosen Nächte des Eugen E.“

Heute mutet es fast seltsam an, einen Menschen als Kommunisten zu bezeichnen. In der Weimarer Republik allerdings lag die KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) in den Wahlergebnissen zwischen 1924 und 1933 beständig zwischen 10 und 15 % und war damit eine feste Größe in der Parteienlandschaft.
Eugen Eberle, 1908 im Stuttgarter Wesen geboren, trat unmittelbar nach seiner „Lehrzeit“ (19), vermutlich 1928, in eben diese Kommunistische Partei ein und gebraucht in seinem 1982 von ihm veröffentlichten Lebensrückblick ganz typische Ausdrücke wie „Arbeiterklasse“ (statt „Arbeitnehmer“, 13), „klassenbewußt(..)“ (13) „die amerikanische Bourgeoisie“ (15), „Aufgabe und Ehre eines Revolutionärs“ (38), „Agitationsgruppe“ (30), „Reaktion“ (30), „Imperialisten“ (106) und manche mehr. Zeitlebens sah er sich als Kommunist. Für mich fremd, aber umso interessanter.
Für seine politische Überzeugung wird Eugen Eberle mit der Machtergreifung der Nazis noch im März 1933 auf dem Heuberg zusammen mit anderen „1.000 Genossen inhaftiert“ (57). Wegen Krankheit 2 Monate später entlassen, kann er sich gerade so unter dem Sichtfeld der Nazis halten und die Jahre bis 1945 überleben. Nach dem Krieg tritt er als Betriebsratsvorsitzender für eine starke Gewerkschaft und für die Entnazifizierung bei Bosch ein, erreicht 1966 in der OB Wahl gegen Arnulf Klett einen Achtungserfolg (15,8 %) und gehört 36 Jahre lang (1948-1987) dem Stuttgarter Gemeinderat z.T. als DKP, DL (Demokratische Linke) und mit seiner das „Parteifreies Bündnis“ an. Die Stuttgarter Zeitung (202/1988; 1. September) würdigt ihn, „als ‚gebildete[n] Proletarier‘, der ‚so etwas wie die humanistische Variante des Marxismus‘ verkörpere“ (zit. nach Wiki).
Nur ca. 70 Seiten seiner Autobiographie verweilen in der Weimarer Zeit, allerdings sehr dicht in der Information. Für mich ist die kommunistische Perspektive auf Stuttgart eine Facette der Zeitgeschichte. Ein Stuttgarter Original ist Eugen Eberle allenthalben …

Die Welt in der Rötestraße

Ganz typisch für den Stuttgarter Westen zum Beginn des 20. Jahrhunderts ist das Nebeneinander von Wohnen und handwerklichen Betrieben. Geboren und aufgewachsen ist Eberle nämlich in der Rötestraße, im gleichen Häuserblock, wo auch Robert Bosch einige Jahre gewohnt (Rotebühlstraße 147) und seine Firma aufgebaut hatte (u.a. Rotebühlstraße 75 B). Um die Hausnummer 16 muss es gewesen sein, denn: „Gegenüber (…) befanden sich Redaktion und Druckerei der wöchentlich erscheinenden ‚Metallarbeiterzeitung‘“ – dieses Haus steht heute noch, das der Familie wurde vermutlich im 2. Weltkrieg zerstört (siehe Bild). Der zur Geburt Eberles bereits erfolgreiche schwäbische Unternehmer Bosch war allerdings schon 1901 in das nicht weit entfernte heutige Bosch Areal mit eigenen Firmengebäuden umgezogen (und privat in eine kleine Villa in der Hölderlinstraße 7).
Eberles Vater betrieb eine kleine Möbelschreinerei, bei der auch der ältere Bruder in die Lehre ging. Nicht ohne Stolz erzählt der Sohn, dass sein Vater vor seiner Zeit als Selbstständiger oft in dem „Lokal der Stuttgarter Gewerkschaften in der Eßlinger Straße“, dem „Schwarzen Bären“ (an der Stelle des gerade abgerissenen Züblin-Parkhauses) verkehrte und „Kontakt zu vielen Arbeitern“ (8) hatte. Und trotzdem war seine „Existenz“ brisanter und „härter“ als die der „Facharbeiter in einer der vielen Möbelfabriken Stuttgarts“ (11). Hier klingt schon zum ersten Mal an, was Eberle sich an Brevier heftet: ein gebildeter Arbeiter zu sein, vielleicht ein klein wenig von der Masse abgehoben.
1914 erlebt er mit 6 Jahren, wie ein Wagen auf der Schwabstraße mit verwundeten, französischen Kriegsfangenen beschimpft wird – ein bedrückendes Erlebnis für den Jungen. Mangels Geldes für die „Bürgerschule“ besuchte er die „Katholische Volksschule in der Schwabstraße“ (8). In den Hungerjahren in der Stadt ab 1916 behilft sich die Familie mit einer kleinen landwirtschaftlichen „Eigenproduktion“, Kaninchenzucht hinter den Häusern und Milch von Ziegen, für die Eugen am damals bewaldeten Hasenberg bis hinauf zu den Bärenseen Grünfutter organisieren musste. Im Winter war es die Holzsuche. „Diese festen Pflichten bestimmten meine Kindheit“ (9)
Im November 1918 ziehen Demonstranten „rote Fahnen schwingend, zur Ecke Ludwig-/Sehnefelderstraße (…). Wo sich das Zuchthaus befand“ (10). Vielmehr an „Revolution“ scheint Stuttgart nicht erlebt zu haben. Wenige Tage später wird die Republik ausgerufen und auch das „geradezu liberale“ (9) Königreich Württemberg abgeschafft, im Januar 1919 die verfassungsgebende Landesversammlung und 1920 der erste Landtag gewählt. Und natürlich haben Eberles Eltern fortan „bei jeder Wahl“ für die KPD votiert …
Die Inflation traf die städtische Bevölkerung Stuttgarts ähnlich hart wie die in Berlin. Sein Vater musste als selbständiger Handwerker lernen, dass der Auftragswert in Mark bis zur Fertigstellung eines Tisches nur noch für eine „Brezel“ (17) gut war. Die Arbeiter in den Fabriken setzten in der Endphase der Hyperinflation eine tägliche Lohnauszahlung durch, damit sie überhaupt noch etwas Essbares für ihre Mark kaufen konnten. Ein „Betrug“ (17), wie Eberle schreibt, war die Währungsreform Ende 1923 mit dem Wechselkurs von 1 Rentenmark zu 4,2 Billionen Mark für alle, die keinen Besitz hatten.

Qualifiziert, arbeiterbewegt und bildungsbeflissen

Nach der Volksschule in der Schwabstraße absolviert Eberle 1923 mit 15 Jahren seine „Mechanikerlehre“ (12) zunächst in einem Kleinbetrieb in der Nachbarschaft, wo er sich jedoch ausgenutzt fühlte. Er wechselte 1924 zu den Contessa-Camerawerken Stuttgart in Heslach – das Fabrikgebäude (gebaut 1913 und 1922) steht übrigens heute äußerlich kaum verändert in der Dornhaldenstraße. Die Räumlichkeiten der Werkstatt (Bild s.u. aus dem Jahr 1911) könnten ganz ähnlich gewesen sein, wie Eberle sie bei Contessa vorfand. Dort war die Ausbildung fundiert. „Aber es war nicht nur die berufliche Seite, die bedeutungsvoll für mich war, sondern vielmehr die vielen Kontakte zu klassenbewußten, organisierten Arbeitern in den letzten eineinhalb Lehrjahren“ (13). Eberle wächst über die Gewerkschaftsarbeit des Deutschen Metallarbeiterverbandes in die politisch linke Agitationsarbeit hinein und lernt: „Überall, wo ich später hinkam, waren es vor allem die qualifizierten Arbeiter, die ‚guten Fachkräfte“, die es sich leisten konnten, im Betrieb ‚das Maul aufzumachen‘ und besonders gewerkschaftlich tätig zu sein“ (13).
Und genau so hält es Eberle. Abgleitet vom Sinnspruch Nitzsches, dass ein „Spezialist“ ein „Mensch“ ist, „der sehr viel von sehr wenig weiß“ (14), legt er großen Wert auf eine gute fachliche Qualifikation, politische Organisation und die geistige Bildung. Fortan wird der Schwabe nicht müde, seine Kompetenz, den Durst nach Wissen und seine politischen Aktivitäten zu schildern.

Wissendurst

Als Arbeitsloser, vermutlich um 1928, tritt Eberle seinen ersten „dreieinhalbmonatigen“ Bildungskurs in der „Volkschule auf der Burg Comburg bei Schwäbisch Hall“ (22) an, wo er mit verschiedenen Gesinnungen konfrontiert ist und über aktuelles Zeitgeschehen, Philosophie und Literatur unterrichtet wird. Der Zwanzigjährige ist von Fichtes „Ansprache an die Jugend“ und Büchners „Hessischem Landboten“ „beeindruckt“ (23).
Trotz der einfachen Verhältnisse, in denen Eberle aufwuchs, hatte Eugens Mutter bereits über „Leihbüchereien“ oder „aus der preiswerten Volksbibliothek in der Silberburgstraße“ (24) Bücher ins Haus gebracht und das Lesen bei den Kindern etabliert – der Bruder Rudolf lernte Buchdrucker. Eberle wuchs mit Karl May und Jack London auf, las  Bruno Traven, der wiederum die „Karl-May-Legende“ von den „Indianern“ „sehr gründlich“ zerstörte (25). In späteren Jahren folgten französische Schriftsteller wie Emile Zola und der Kriegsgegner Rolland.
Eine „Begegnung mit Dora zu Puttlitz (sic!)“ (25), die die älteste Tochter des 1922 verstorbenen Generalintendanten des könglich-würrtembergischen Hoftheaters Joachim Gans zu Putlitz war und für eine Frau sehr ungewöhnlich selbst die Sowjetunion bereist hatte, vermittelte ihm bei ihren Volksschulkursen russische Literatur wie Gladkow, Gorki, Kollantaj u.a. Auch dem „volksnahen proletarischen Theater“ aus Russland tritt er aufgeschlossen gegenüber. Bei seinem „kurzen beruflichen Intermezzo bei Siemens  Halske in Berlin“, wo er mit dem übermäßigen Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft als Schwabe gar nicht zurecht kommt, lernt er Erwin Piscators Volksbühne kennen und bemüht sich auch sonst sein „Selbststudium fortzusetzten, vor allem mit den theoretischen Grundlagen des Marxismus“ (28).

Kommunistische Agitation in Stuttgart

Zurück in Stuttgart 1929 nennt er den Arzt Dr. Friedrich Wolf und dessen Schrift „Kunst als Waffe“ (29) – das Traktat von 1928 heißt allerdings Kunst ist Waffe – als wichtigen Parteigenossen, der mit seiner „Agitationsgruppe“, dem „Spieltrupp Südwest“ die dem Nationalsozialismus „zugeneigte“ „Landbevölkerung zu gewinnen suchte. Aber auch in der Stadt wurde Wolfs „revolutionäres“ Stück „Die Matrosen von Catarro“ im privaten Schauspielhaus „in der kleinen Königstraße“ aufgeführt. Der Inhaber Claudius Kraushaar, wurde daraufhin „boykotiert“ und „mußte Deutschland verlassen“ (31) wie auch der Autor Wolf.
Eberle selbst wird in der Stuttgarter „Interessensgemeinschaft(…) für Arbeiterkultur“ (30), kurz IFA, tätig, indem er dem Publikum jenseits der „bürgerlichen“ Lichtspielhäuser die „sowjetische Filmkunst“ nahebringt, etwa den berühmten „Panzerkreuzer Potemkin“ (siehe Bild unten), aber auch Veranstaltungen zu sowjetischer Literatur und Dichtkunst wie auch zu deutschen Schriftstellern der „Arbeiterklasse“ organisierte.
Die MASCH (Marxistische Arbeiterschulung), für die Eberle tätig ist, mietet sich im „Souterrain eines Hauses in der Sickstraße“ ein und gewinnt Lehrer wie den Stuttgarter Erwin Petermann, dem späteren Direktor der Stuttgarter Staatsgalerie, oder Kurt Hager, „der spätere Kulturminister der DDR“ (34). „Es ging weniger darum, „Mitglieder der Partei zu schulen, (…) sondern (…) die Hörer für die Ziele der Arbeiterbewegung zu gewinnen“ (34). „Studenten des Architektur-Professors Paul Bonatz gehörten ebenso zu den Besuchern wie auch „jüdische Frauen“, vielleicht weil „viele Juden in der Emanzipation der Arbeiterklasse die Voraussetzung für ihre eigene Emanzipation sahen“ und damit in den „Arbeiterparteien (…) einen Schutz vor der verhängnisvollen Entwicklung“ (34). Mit Befriedung beobachtet Eberle, dass sich „nur wenige der MASCH-Hörer von der nationalsozialistischen Propaganda blenden ließen“ (34).
Eberle „führte“ in dieser Zeit eine kleine Buchhandlung in Räumen der jüdischen Gemeinde, direkt neben der Synagoge. In den Schaufenstern lagen Bücher, deren Umschläge von dem deutschen Fotomontagekünstler Helmut Herzfeld, „John Heartfield“ mit Künstlername. Dort lernte er Lilo (Liselotte) Hermann kennen, eine Parteigenossin, die 1938 von den Nazis hingerichtet wurde. Und fast grotesk: Um sich 1932 vom Verdacht der „Kommunistenfreundlichkeit“ zu befreien, kündigte die Jüdische Gemeinde die Ladenräumlichkeiten.
Bereits 1931 war die Buchhandlung nach verbotener kommunistischer Literatur von der Polizei durchsucht worden. Da es „zur Aufgabe und Ehre eines Revolutionärs gehörte, belastendes Material jederzeit verschwinden lassen“ (38) zu können, wurde zunächst nichts Belastendes gefunden. Leider lag bei der nächsten Durchsuchung in der elterlichen Wohnung ein versehentlich beiseite geschafftes Exemplar in der Küchenschublade. Eugen und sein Bruder wurden verhaftet, kamen aber durch die heldenhafte Intervention ihrer Mutter zu ihrer Verwunderung frei. Sie hatte das Herz des Untersuchungsrichters erweicht, indem sie argumentierte: Schuld „seien nicht jene, die im Gefängnis säßen, sondern jene, die ihnen das Recht auf Arbeit vorenthielten“ (39).

Aufstieg der Nazis

Aus dem Rückblick tut sich Eberle leicht, die geschichtlichen Ereignisse insbesondere der beginnenden nationalsozialistischen Bewegung sehr klar zu beurteilen:
Die Reichstagswahlen im Mai 1928 hatten ein erfreuliches Ergebnis erbracht: „SPD und KPD erhielten zusammen 42 % der Mandate“ (19), jedoch nahmen die Spannung innerhalb des linken Spektrums bis hin zur Feindseligkeit zu, weshalb der „politische Gegner gewann“. Das Redeverbot für Hitler wurde 1927 in Bayern, 1928 in Preußen aufgeboben. „Die Zahl der Arbeitslosen stieg von 9,7 % /1927/1928) auf 22.7 % Ende 1930 – 4,4 Millionen Erwerbslose“ (19), was den Einfluss der Nazis „erweitert“.
Die Wahlen vom 14. September 1930 erlebt Eberle „auf dem Platz vor dem Stuttgarter Tagblatt-Turm“, der erst 2 Jahre zuvor in der Eberhardstraße (Nummer 61) errichtet wurde (und noch heute steht) und der namengebenden Zeitung als Redaktionsbüro diente. „Die Wahlergebnisse wurden auf eine riesige Leinwand projiziert“ – technisch offenbar innovativ: „Hunderte von politisch Interessierten standen“ auf dem „kleinen Platz“, der „restlos überfüllt“ war (20) . Die Informationen stammten zeitnah über das „Wolff’sche Telegraphenbüro“ aus den Wahlzentren. Die Nationalsozialisten waren hier sprunghaft auf über 18 % gekommen: „Das kam einem politischen Erdrutsch gleich“ (20).
Namentlich macht Eberle den Medienunternehmer „Alfred Hugenberg“ und die Notverordnungen Brünings, welche die „unter dem Existenzminimum lebenden Schichten am härtesten“ (21) traf, für den weiteren „Stimmenzugwachs der Nazis“ mitverantwortlich. „Dreiviertel aller Erwerbstätigen – einschließlich der Rentner – bezogen nur noch ein Monatseinkommen bis zu 100 Mark“ – ein Fakt, der nicht folgenlos bleiben konnte.
1932 wuchs der Einfluss der Nationalsozialisten mithilfe der „Industriellen Thyssen, Poensgen und Vögler“ (42) immer mehr. Die „Schläger- und Terrorverbände“ (44) der SA und SS beherrschten die Straße. Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler Reichskanzler. Die KPD ruft zum Generalstreik auf. Im „Dinkelacker-Saalbau bei den Silberburganlagen“ (52) versammelte sich eine riesige Menge mit anschließender Demonstration zum Protest. Als Hitler am 15. Februar 1933 nach Stuttgart zu einer Rede in der Stadthalle in der Neckarstraße eintraf, jubelte die „Menge begeistert ihr ‚Heil Hitler‘“ (53). Wenigstens hatte die KPD das Kabel zum Rundfunkhaus in der Wederstraße gekappt, so dass die Rede nicht übertragen werden konnte – ein kommunistischer Schwabenstreich und Widerstandsakt. Nach der Reichstagsbrandverordnung werden erste Kommunisten verhaftet. Nur einen Tag nach der erneuten Wahl Hitlers zum Reichskanzler wurden Haftbefehle gegen alle kommunistischen Abgeordneten erlassen, ab dem 11. März werden auch die Funktionäre der KPD in Stuttgart „verhaftet worden“ (56). „Die republikanische Weimarer Polizei hatte ‚gute‘ Vorarbeit geleistet; alle Antifaschisten, Kommunisten, Rot-Front-Kämpfer usw. waren bereits in Listen der Polizei erfaßt“ (56). Auch Eberle wird auf dem Heuberg zusammen mit „1.000 Genossen“ (57) eingesperrt.
Wie Eugen Eberle das Naziregime überstand und im Nachkriegsdeutschland für die Entnazifizierung bei Bosch und für die Gewerkschaft gekämpft hat, ist voller interessanter Geschichten, die das Buch von ihm lesenswert machen – leider nur noch antiquarisch zu erwerben.

Interessant zu wissen …

Eberle erwähnt der Kampf der Stuttgarter Ärztin Dr. Else Kienle und seines KPD-Genossen Dr. Friedrich Wolff gegen den § 218. Seit 1871 stellt der Paragraph Abtreibung unter Strafe (bis zu 5 Jahren, mindestens ein halbes Jahr) mit Ausnahme von medizinischen Gründen. Else Kienle wurde 1931 „wegen des Verstoßes gegen § 218“ (29) verhaftet. Wie der Prozess ausging, schildert der Schwabe nicht, wohl aber von Protestversammlungen „in der Stadt“ und von den Reden der Ärzte Dr. Friedrich Wolf, Dr. Hermann Meng sowie dem „Sexualforscher“ Dr. Max Hodann. Alle sprachen sich nicht für eine „leichtfertige Schwangerschaftsunterbrechung aus“, sondern für „gezielte Verhütungsmaßnahmen“ und eine bewusste Kinderpolitik: „‚Unsere Kinder müssen willkommene Gäste am Tisch des Lebens sein!‘“, was weit mehr war „als nur die Forderung nach Abschaffung des § 218, die damals politisch gegen die Reaktion nicht durchsetzbar war“ (30).
Themenwechsel, aber ebenfalls bemerkenswert ist, dass Rudolph Steiner mit seiner Idee der sozialen „Dreigliederung“ in seiner Zeit offensichtlich so präsent war, so dass der junge Eberle bei seinem „dreieinhalbmonatigen Kursus der Volkshochschule auf der Burg Comburg bei Schwäbisch Hall“ (22) – übrigens meine Geburtsstadt –, genau zu diesem Thema ein Referat halten musste mit anschließender Diskussion. Steiners Wirken in Stuttgart ist auch einen Artikel wert.

Verbundene Schicksale

Für die Familie Holzinger gibt es einen Stolperstein in der Stuttgarter Landhausstraße 181, an der Ecke des Ostendplatzes. Der jüdische Arzt Jakob Holzinger nahm sich zusammen mit seiner Frau Selma am 08. November 1940 vor der Gefangennahme und Deportation ins KZ durch die Nazis das Leben. Verbunden ist deren Schicksal eng mit dem Eberles. Die Arzttochter Hermine Holzinger lernte den Buchdrucker Rudolf Eberle, Eugens Bruder, in der Marxistischen Arbeiterschulung (MASH) kennen und lieben. Ab 1933 durfte Jakob Holzinger nicht mehr praktizieren und „gab sich (…) nie Illusionen hin: er wußte, daß die von Hitler und Streicher geforderte ‚Lösung der Judenfrage‘ mit der Liquidierung der Juden enden würde“ (111). Deshalb schaffte er „Geld ins Ausland“, um wenigstens seiner Tochter und seinen beiden Söhnen die Flucht nach Frankreich, später dann auf eine Finca in Ibiza zu ermöglichen.
Der mit Hermine liierte Rudolf wollte „die Beziehung nicht aufgeben“ (75) und ebenfalls emigrieren, jedoch wurde ihm der „Sichtvermerk“ für Auslandsreise aus „politischen Gründen verweigert“. Kurzerhand tauscht der Buchdrucker einzelne Seiten des Passes mit seinem Bruder, reist seiner Liebe nach Paris nach und heiratet sie dort. Mit der Registrierung auf dem Pariser Standesamt allerdings wird sein Passbetrug aufgedeckt und Eugen wird von der Gestapo vorgeladen. Zu dessen großer Erleichterung jedoch ist dieser Nazi von dem arischen Aussehen Rudolfs beeinflusst und nimmt dem Bruder lediglich das Versprechen ab, den Deutschen zur „Rückkehr in die Heimat“ (76) zu überzeugen.
Die Schwiegereltern, denen weder Geld noch Wege für die Flucht bleiben, wissen nach einem ersten KZ-Aufenthalt von Jakob Holzinger 1938 in Dachau, was ihnen bevorsteht. Am Vorabend ihres Freitods wird auch Eberle zu dem Paar gerufen, erhält von ihnen Bücher (u.a. O. Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“) und verabschiedet sich im vollen Bewusstsein, welche Absichten sie hegten, mit einem „Auf Wiedersehn. „Lächelnd erwiderte Frau Selma Holzinger: ‚Ausgerechnet der Eugen, der Atheist, sagt ‚Auf Wiedersehen‘“ (113).

Eberle Eugen; Grohmann, Peter: Die schlaflosen Nächste des Eugen E.,Erinnerungen eines neuen schwäbischen Jacobiners, ed.co edition cordeliers, 281 Seiten.

Bildnachweis:
Contessa Werke (Gisela Kemmler Verlag und H.Lindemanns Buchhandlung); Dornhaldenstraße (Zinnmann, Wiki, leicht verändert); Pass Eberle (ed.co. editio cordeliers); Rötestraße (Zinnmann, Wiki);

Links:

Eugen Eberle (Wiki)

Künstlerisches Meisterwerk oder friedensgefährdend? – Skandal um „Panzerkreuzer Potemkin von Hannah Böhm: Beschreibung des Films und der Kritik in München (Quelle oben: Zeitungsausschnitt)

Stuttgarter Stolpersteine – Dr. Jakob Holzinger: Kurze Erinnerung an die Familie Holzinger aus der Landhausstraße 181
 
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