Ungelöste Fälle in Berlin Mitte
Volker Kutschers erster Krimi (2008) hat mich positiv überrascht. Wenn etwas so populär ist, dass es das Siegel Spiegelbestseller trägt und eine Verfilmung (2017 ff.) im ARD mit spektakulärem Marketingaufwand folgt, muss das nichts heißen, jedenfalls nicht zwingend etwas Gutes. Aber „Der nasse Fisch“ ist ein solide gemachter Kriminalroman, lässt aber vor allem das Zeit- und Lokalkolorit in vielen Details und Ereignissen aufleben – ein hardboiled Sittengemälde der Kriminalpolizei am Ende der Weimarer Republik in der roten Burg, dem Polizeipräsidium der Hauptstadt und Weltmetropole Berlin.
Der erste Fall
Kommissar Gereon Rath ist ambitioniert, aber neu im Sittendezernat, der Inspektion E bei der Kriminalpolizei. Ihm gelingt unter seinem Chef, Bruno Wolter, die Zerschlagung einer kleinen Filmproduktion für pornographische Inhalte, später dann ein Coup gegen illegale Nachclubs. Aber der junge Beamte hegt Zweifel an seiner Tätigkeit. Was soll es bringen, denen, die es wollen, das bisschen Zerstreuung zu verleiten? Gereon ist im Herzen Mordermittler, war es bereits in Köln, bis ihn ein aufgebauschter Todesschuss für die dortige Polizei untragbar macht und der einflussreiche Vater (Kriminaldirektor) ihm die Stelle in Berlin zuschanzte. Als im Landwehrkanal ein verstümmelter Toter gefunden wird, der in der vorherigen Nacht noch sehr lebendig genau vor seinem Zimmer randaliert hatte und zu seinem russischen Vormieter wollte, sieht er seine Stunde gekommen, es allen zu beweisen: Er ermittelt auf eigene Faust, um den unverschämten Leiter der Mordkommission auszustechen.
Was dabei sicher nicht geplant war: Der Kriminaler aus der städtischen Provinz stolpert nicht nur unbedarft in den Sumpf von Korruption, Waffenschieberei und politischer Agitation innerhalb des Polizeipräsidiums, sondern gerät auch mit der Unterwelt in engste Berührung. Gereon Rath begegnet bei einer Recherche, die ihn in die Berliner Vergnügungsszene führt und als Tarnung sogar zum Koksen verführt, Dr. M., einem kühlen Geschäftsmann in der kriminellen Szene (Ringverein). Dessen Interessen an einem illegalen Goldtransport aus Russland decken sich mit denen der Kriminalpolizei, denn der tote Russe war darin verstrickt. Der Kommissar verbündet sich im Informationsaustausch mit dem Verbrecher. In dunklen Vierteln unterwegs wird Gereon verfolgt, tötet aus Notwehr einen Mann und lässt diesen auf einer Baustelle im frischen Beton verschwinden. Natürlich ist das sein erster Fall, als er mangels Personal in die Mordkommission berufen wird und er kann die Kugeln austauschen, was den Verdacht später auf einen Kollegen lenken wird, der tatsächlich einen Mord an einem jungen Polizisten verübt hat und Waffenschiebereien für die Nationalen betreibt.
Nicht alle eigenen Ermittlungen des neuen Kommissars sind von Erfolg gekrönt. Sein Versuch, den Polizeipräsidenten an der Linie vorbei von seinen Ergebnissen zu überzeugen, endet sogar desaströs. Isoliert von seinen Präsidiumskollegen, auf der Mordliste eines korrupten Kommissars, aber mit dem Verbrechersyndikat im Bund gelingt Gereon Rat der unglaubliche Coup, den gordischen Knoten in der Mitte durchzuschlagen: Korruption und Verbrechen werden bestraft, wenn auch nicht genau für das, was man ihnen zur Last legen müsste …
Natürlich kommt auch diese Geschichte nicht ohne ein bisschen Liebe aus. Charlotte Ritter (Charlie) arbeite als Stenotypistin im Präsidium und studiert nebenbei Jura, eine ideale Besetzung für den Part. Langsames Anbahnen bei der Arbeit, eine Liebesnacht, Turteln, aber dann der Bruch, weil Gereon Informationen von ihr egoistisch ausnutzt. Nach der Aussprache deutet sich an, dass es in Band 2 wieder etwas werden könnte (und auch tut!). Nett gemacht.
Typischer hardboiled Krimi?
Ich bin ja nicht der Krimiexperte, fand aber die Spurensuche und die verworrenen Weg der Aufklärung, Finten und falsche Fährten inbegriffen, von vier Morden im ersten Roman spannend genug, dass ich es als Krimi gerne gelesen habe. Die Verwicklung der Polizei in kriminelle Aktivitäten, der Schulterschluss mit einem Verbrechersyndikat und der einsame Ermittler machen es zur „hardboiled“-Variante, wobei ich schon deutlich hartgekochtere Krimis gelesen habe – Gereon Rath ist letztlich ein Guter und auch das Präsidium der Polizei fortschrittlich und auf das Richtige aus, wenn auch in der Person des Präsidenten sehr politisch unterwegs. Noir also ist es nicht.
Unstimmig fand ich die Anfangsmotivation des neuen Kommissars in Berlin, eigene Ermittlung anzustellen. Wie in einer Schuljungenfantasie will Gereon es allen beweisen … Dabei hätte er nur ein wenig warten müssen. Die Berliner Polizei war bekannt dafür, dass alle in der Inspektion A lernen durften – zumal er vorher in Köln Kriminaler war. Psychologisch mag es sich erklären, dass Gereon Rath der Sohn des einflussreichen Kölner Leiters der Kriminalpolizei ist und sich selbst beweisen will, überzeugt hat es mich nicht. Aber das ist nur ein kleiner Punkt.
Oft werden die Motive für die Verbrechen nicht ganz klar und nicht komplett aufgeklärt, aber das macht es eher interessant. Insgesamt ist der Krimi fast vollständig aus der Sicht von Gereon Rath geschildert, nur ab und an gibt es einen Wechsel der Erzählperspektive, um Spannung zu erzeugen oder ein wenig anderes Kolorit zu vermitteln. Für mich war das noch sehr unsystematisch und deshalb erzählerisch nicht komplett gelungen. Ich hätte mir öfters gewünscht, Einblick in die anderen handelnden Personen zu erhalten, aber auch das hat meinem Lesespaß keinen Abbruch getan.
Berlin ist ein Dorf von Weltruf
Natürlich bietet ein Döblin (Berlin Alexanderplatz) und Erich Kästners Fabian (Vor die Hunde) deutlich mehr an Vielfalt über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Berlin und seine Atmosphäre, aber das waren auch Zeitgenossen. Kutscher hat diese Autoren gut gelesen und auch sonst viel historisches Material eingebracht.
Nicht immer entsteht in dem Roman ein stimmungsvolles Bild, wenn viele Straßennamen als Routen genannt und „korrekte“ Angaben zu Orten und Ereignissen gemacht werden. Tatsächlich hat mir mitunter das „echte“ Flair gefehlt, die Fantasie kein richtiges Bild von Berlin und seinen Verhältnissen gefunden. Aber die Gradwanderung, eine eigene Geschichte entstehen zu lassen auf dem Hintergrund einer historischen Kulisse, ist sehr gut gelungen, finde ich. Dafür bleiben einem endlose Detailbeschreibungen erspart, wie sie in anderen Romanen auch völlig übertrieben sind und nerven können.
Voll von geschichtlichen Fakten steckt der Roman bis oben hin. Die Maiunruhen 1929 („Blutmai“) beispielsweise sind szenisch eindrücklich umgesetzt: die starke Repressionen durch die Blauen (Polizei), das Demonstrationsverbot, Straßenkämpfe und Tote, alles vom Polizeipräsidenten Zörgiebel, angeordnet, was diesen wenige später seine Stellung kostete. Die erste Ampel am Berliner Platz, Baustelle am Alexanderplatz, Mordauto, die Berliner Kriminalpolizei mit dem berühmten „Buddha“ Ernst Gennat und dem jüdischen Vize Bernhard Weiß … All dies und vieles mehr aus dem Roman ist historisch belegt und lässt sich gut recherchieren.
Dass die handelnden Personen sich in Berlin einige Mal fast zufällig über den Weg laufen, hat mich etwas irritiert. 1929 lebten in der Weltstadt über 4 Mio. und damit mehr Menschen als heute! Dann ist mir wieder ein Spruch von einem Berliner Freund eingefallen. „Berlin isn Dorf“ – man trifft sich tatsächlich an bestimmen Stellen immer wieder. Das ist typisch Berlin.
Babylon Berlin – Bilderflash ohne roten Faden
Die Metropole Berlin in den goldenen Zwanzigern ist zweifellos ein Mythos, der nach der großen Zerstörung 1945 eben nur noch aufwändig rekonstruiert werden kann. Und das leistet die Serie. Berlin brilliert in der ersten Hauptrolle. Die zweite Starbesetzung sind die toll inszenierten Alltagsszenen, von denen ich fast nicht genug sehen konnte, weil sie ein mächtiges, bewegtes Bild von Berlin erschaffen. Allein deshalb lohnt es sich, in die Serie von den Öffentlich-rechtlichen reinzusehen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass in einem Film viele der Figuren in ihrer Lebenswelt beleuchtet werden und weit mehr über sie „erzählt“ wird. Der Lockführer aus Rußland erhält so eine komplett eigene Geschichte im Film, während er in der Romanvorlage nur die „Leiche aus dem Landwehrkanal“ war. Aber genau auf diesem Terrain zeigt sich auch der der größte Kritikpunkt von meiner Seite. Warum muss die Serie so dick auftragen? Grundlegende Konstellationen wurde komplett verändert und frei hinzuerfunden: Kommissar Gereon erlitt durch den Krieg eine posttraumatische Störung, die mit Morphin behandelt wurde und ihn abhängig, zum Junkie macht. Er hat seine Leben aufs Spiel gesetzt, um seinen vermissten Bruder zu finden, obwohl er ein Verhältnis zu seiner Schwägerin hat. Nach Berlin zur Sitte ist er im Auftrag seinen Vaters gekommen – der in Köln ein hoher Polizeibeamter ist –, um kompromittierendes Material gegen den Bürgermeistern von Köln, Konrad Adenauer (ja, der spätere Bundeskanzler!), zu suchen und dann zu unterschlagen. Der Gipfel von allem: Die Stenotypistin Charlotte ist im Nebenberuf Edelnutte und lässt sich von Gereons Chef missbrauchen. Nichts davon gibt es im Buch.
Abweichung von der Literaturvorlage – kein Problem. Heftige Charaktere – auch grundsätzlich kein Problem. Nur leider funktioniert es in diesem Fall nicht. Die Beziehungen unter den Akteuren wirken in der Serie grotesk, die Erzählung besteht nur noch aus Flashlights, die Handlung wird wirr und abstrus. Irgendwann in der zweiten Staffel hab ich aufgegeben: Der rote Faden war unauffindbar verloren.
Schade für die schöne Bild-Inszenierung – da hätte ein echter Dramaturg fürs Geschichten-Erzählen Not getan, um in dem bunten Reigen von (z.T.) international tätigen und renommierten deutschen Regisseuren ein wenig Linie reinzukriegen. Wer sich für die Zeit interessiert, für den entsteht ein tolles Panoptikum von Berlin in den Endzwanzigern des letzten Jahrhunderts. Wer gute Krimis vor historischer Kulisse mag, muss Babylon Berlin wirklich nicht gesehen haben – dann viel lieber den nassen Fisch und seine bisher acht Folgebände lesen, die interessanterweise jeweils in einem Jahr spielen (1929-1936) und die Entwicklung zur Katastrophe sehr gut dokumentieren.