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Erinnerungen eines Bundespräsidenten

Ein berühmter Schwabe in Berlin und Stuttgart

Ich muss zugeben, dass ich über Theodor Heuss, dem ersten Bundespräsidenten der BRD, ziemlich wenig wusste. Zufällig sind mir seine Memoiren in einem Bücher-Telefon-Häuschen am Ende des Ramsbachtales (bei Schönberg) in die Hände gefallen. „Erinnerungen 1905-1933“ – genau die Zeitspanne, für die ich mir hier interessiere – das klang sehr vielversprechend. Wer also war dieser ehemalige Bundespräsident?

Der erste Blick ins Internet offenbarte: Er ist ein Schwabe, 1884 im Weinstädchen Brackenheim (bei Heilbronn) geboren, also nur gute 50 km von meiner Heimat entfernt. Und der zweite Blick: Theodor Heuss hat mit seiner Frau Elly Heuss-Knapp von 1945-1949 nur fünf Straßen von meinem heutigen Wohnsitz entfernt in Degerloch gelebt – das Haus (s.u.) in der Löwenstraße 86 gedenkt heute noch mit Stolz seiner berühmten Bewohner. Es scheint sogar noch ältere Einheimische zu geben, die von dem Ehepaar Geschichten zu erzählen wissen (  Stuttgarter Zeitung, 26.06.2018, Der Präsident bestellte Degerlocher Kuchen). Theodor Heuss ist schließlich 1963, kurz nach dem Abschluss seiner Lebenserinnerungen gestorben und auf dem  Stuttgarter Waldfriedhof – auch bei mir um die Ecke (Bild s.u.) – begraben. Genügend lokale Bezugspunkte für mich!

In der Zeit der Weimarer Republik lebte Theodor Heuss mit seiner Frau durchgehend in Berlin, so dass sich hoffnungsvoll erwartete, vielleicht einer schwäbisch-ländlichen Sicht auf die politischen Verhältnisse in der Großstadt zu begegnen. Das traf in gewisser Weise durchaus zu, wenn auch etwas anders als gedacht.

 

Berufsjahre bis zum Kriegsende

Die Hälfte der Erinnerungen handeln von dem beruflichen Werdegang Theodor Heuss‘ als politischer Redakteur, zunächst bei der Zeitschrift Die Hilfe, ab 1912 als Chefredakteur der Heilbronner Neckar-Zeitung. Und von seiner Unterstützung des nationalsozialen Kreises um den Pfarrer Friedrich Naumann, in dessen politischer Agenda sich liberale und soziale Ziele mit nationalen Gedanken verbanden. 1908 heiratet er, getaut von keinem Geringeren als Albert Schweizer, die Straßburgerin Elly Knapp, eine Tochter des renommierten Ökonomen Georg Friedrich Knapp, und wird Vater eines Sohns (1910). Aus körperlichen Gründen blieb er in der Kriegszeit vom militärischen Dienst verschont.
Von dem einen oder anderen Ausflug in die Gefilde der Kunst und Literatur weiß Theodor Heuss auch zu berichten, wobei sich letztlich zeigt, „daß ich doch kein ‚Dichter‘ sei. Das war eine ganz wohltätige Einsicht. Das Schicksal wollte mich wohl offenbar doch in die Politik führen“ (161).
Das direkte Kriegsende erlebt die Familie Heuss im ländlichen Heilbronn. „Ob es eine ‚Revolution‘ war?“ – Die einzelnen „Gehorsamsverweigerungen“ (233) wertet Heuss als Vorzeichen eines Zusammenbruchs. Niemand hatte das Volk auf eine Niederlage vorbereitet. Um so heftiger katapultierte das Kriegsende Deutschland „in Jahrzehnte der Not und der inneren Zerklüftung“ (232).

Wirken in der Weimarer Republik

Obwohl der junge Redakteur Heuss sich nach dem ungünstigen Versailler Vertrag wenig „Illusionen“ (237) über die Möglichkeiten einer souveränen deutschen Politik gemacht hatte, begibt er sich doch mitten hinein. Die Berliner Zeit von 1918 bis zum März 1933 ist vielfältig. Als Vorstandsmitglied des Deutschen Werkbunds betreibt Theodor Heuss kulturpolitische Arbeit, daneben schreibt er für einige deutsche Zeitungen. Vor allem anderen aber ist er mit einem Jahr Unterbrechung von 1924 bis 1933 Mitglied des Reichstags für die DDP (Deutsche Demokratische Partei) und die Deutsche Staatspartei.

In den gut zweihundert Seiten über diese Lebensphase reißt Heuss wichtige Politereignisse in den verschiedenen Regierungskabinetten an und urteilt anekdotenhaft über viele berühmte Zeitgenossen aus Politik und Kunst, immer aus dem Blickwinkel der persönlichen Erinnerung und mitunter wenig systematisch.
Ein paar der gezeichneten Federstriche haben sich mir eingeprägt, obwohl es nicht leicht war, diese in klaren Linien wiederzugeben.

Politisches Klima
Anfangs herrschte in der Weimarer Republik eine demokratische Aufbruchsstimmung, in der zwischen den „Parteien noch eine menschliche und sachliche Loyalität herrschte“ (246), getragen von einem Respekt gegenüber dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert. Man stritt sich kollegial um „ein Mehr oder Weniger an demokratischer Rechtsordnung, in der Abwehr der ‚Räteideologie'“ (251). Theodor Heuss sprach sich in dieser Zeit entschieden gegen das Plebiszit aus, einer direkten Mitbestimmung, weil er dem „amorphen und verwirrten Volk“ (248) kein ausgewogenes Urteil zutraut. Aus dem Rückblik auf das Ende von Weimar muss man ihm ein historisch korrektes Gefühl für die demagogische Beinflussbarkeit der Massen zubilligen.
Eine pädagogische Wirkung auf das Volk schreibt er der neuen Staatsform durchaus zu und steht voll hinter der Republik:
„Nun bietet gewiß die Demokratie, gleichgültig in welcher Rechtsform eingekleidet, keinerlei Glücksgarantie an, weder für den Einzelnen noch für ein Gemeinwesen. Doch ist sie der Erziehungsfaktor zur Eigen- und Mitverantwortung“ (276 f).
Mit der Wahl des Monarchisten Hindenburgs zum Reichspräsidenten, dem der „Mythos siegreicher Feldzüge“ (329) zum Sieg verhalf, verdunkelte sich 1925 die Atmosphäre, die Gegnerschaften verstärkten sich. Kommunisten und Nationalisten radikalisierten sich. Das „Straßenbild“ (358) veränderte sich, Uniformierte marschierten auf. Die „geschulte Brachialgewalt für die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner“ von Seiten der Nationalsozialisten führte zu offenen und brutalen Konfrontationen.
Aber auch  an „Radikalen der Linken fehlte es nicht“ (341), die eine „entschädigungslose Enteignung der alten fürstlichen Vermögen“ (365) forderten und ebenso gewaltbereit waren.
Ein großer Teil der Pressewelt und des Films wurde von dem Deutschnationalen Alfred Hugenberg, der später im Kabniett von Hitler saß, nach rechts beeinflusst – Heuss urteilt über ihn überraschend mild, obwohl der Industrielle nachweislich einen Beitrag zur Machtübernahme Hitlers geleistet hat: „er wurde, gewiß eine ‚Patriot‘, zu einer unheilvollen Figur der vaterländischen Geschichte“ (362).
Die „Zerfahrenheit der Parteien“ (391) wie auch die „Zerrissenheit des Parlaments“ (394) , die zu keiner gemeinsamen Richtung mehr fähig waren, führte 1930 zur Auflösung des Reichstags, einer darauf folgenden Regierung die mit Notartikel 48 Gesetze verabschieden ließ und letztlich zum Aufstieg der Nationalsozialisten.

Sicht von außen auf Deutschland
Deutschland war nach dem Krieg ein völlig anderes – demokratisch und ohne Militär. Außenminister Rathenau, laut Heuss „eine großartige Erscheinung“ (279), kämpfte mit diplomatischen Mitteln für dieses Deutschland und wurde ermordet, „nicht weil dieser den Rapallo-Vertrag abgeschlossen hatte, sondern ganz einfach, weil er ein Jude war“ (278). Die russische Seite hatte durch diesen politischen Schachzug des Ministers auf Reparationen von Deutschland verzichtet, aber die Versöhnung mit Frankreich rückte deshalb nicht näher. Im Gegenteil: Poincaré, während des Kriegs französischer Staatspräsident und nach 1918 mehrfach Ministerpräsident, weihte „Woche um Woche ein Kriegerdenkmal“ ein und hielt dabei „unversöhnliche Reden“, die zum negativen „deutschen Wirtschaftspolitikum“ (280) wurden. In „Paris glaubte man einfach nicht an den ernsthaften Willen der Deutschen“ (285), weshalb Frankreich und Belgien 1923 das Ruhrgebiet besetzen, in deren Folge die Hyperinflation entstand: „Das Opfer wurde die deutsche Reichsmark“ (286).

Amerika spielt eine gegenteilige Rolle und war an einer Normalisierung deutschen Wirtschaft interessiert, die ihrerseits eine Übertragung der Wirtschaftsideologie von Übersee betrieb („Technifizierung der gewerblichen Herstellung“, 397). Der von den USA vorgeschlagen Dawes-Plan 1924 bedeutete eine Entlastung von den immensen Reparationszahlungen und gab der deutschen Wirtschaft wieder eine reale „Chance“(299). Aus heutiger Sicht, das sei angemerkt, trugen die darauf vergebenen Kredite auch zu einer Abhängigkeit von den USA bei und machten den schwarzen Freitag für Deutschland zum Verhängnis.
Wie sich die Kräfteverhältnisse verändert hatten, beschreibt Heuss anschaulich: „Die USA sind vor 1914 ein Schuldnerland gewesen, seine Industrien aufgebaut in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Kredite der Börsen in London, Paris, selbst Berlin – nach 1918 wurde New York für die halbe Welt der Umschlagsplatz des beherrschenden Gläubigerlandes“ (296).
Mit der Gründung des Völkerbundes, betrieben von den Amerikaner, war außerdem eine Organisation geschaffen, „die künftig bewaffnete Konflikte unmöglich machen sollte“ (250). Dass Deutschland 1926 beitreten konnte, geschah unter Vermittlung der USA.
Vor allem die Regierungen in Frankreich waren es, die den Deutschen einen unverbesserlichen Militarismus unterstellten. Gleichwohl räumt Heuss ein, dass die militärische Aufrüstung durch den „Stahlhelm“ und der große Aufmarsch „halbmilitärischer Verbände“ (360) überall in Deutschland „nach außen“ „unglaubwürdig“ wirken mussten.

Die Treiber des Untergangs
Wie es zu der Katastrophe am Ende der Weimarer Zeit kommen konnte, über diese Frage gehen die Meinungen in der modernen Forschung weit auseinander.
Für Theodor Heuss war ein wichtiger Faktor die Inflation von 1923, in der Mittelstand und freie Berufe ihrer kompletten „Ersparnisse“ beraubt wurden. Die daraus entstandene „Last“: „eine deprimierte Menschengruppe sollte, ohne Gegenwehr leisten zu können, nach ein paar Jahren als Wählermasse der Raub von Hitlers Propaganda werden“ (293).
Der im Putschversuch von 1923 angestrebte „Marsch nach Berlin“ scheiterte kläglich, war aber Hitlers erster Versuch eines „patriotisch“ verstanden Widerstands. Ihm ging es von vorherein nicht um eine Verständigung mit dem politischen Gegner, sondern darum „ihn zu vernichten“ (291). Die „ekelhafte Monopolisierung der Worte Vaterland oder Nation war ja
schon im Krieg entstanden und jetzt erneut zum Blühen gekommen. Adolf Hitler war in diesem Kreis die wirkungsstärkste Figur“ (291). Hinzu kam das unsäglich „Dolchstoßgeschwätz“ (324). An den „Randstellen des deutschen Siedlungsgebietes“ schlug die „Hitlerei Wurzeln“. Das Deutschtum wurde okkupiert, das neue Medium Rundfunk instrumentalisiert. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 und die „rücksichtslose und raffinierte Organisationspropaganda“ (385) der Nationalsozialisten wurden zum
„Motor“ all dessen, was darauf folgte.
Doch niemand, so beteuert Heuss, konnte „das Phänomen Hitler richtig bewerten“ (261). Auch er selbst sah vieles und schätzte es doch nicht richtig ein, wie seine Reichstagsrede zeigt.

Gegen den Nationalsozialismus – Reichstagsrede 11.05.1932
Eine lange Rede vom ihm als Abgeordneter vor dem Reichstag in der Originalmitschrift präsentiert uns Heuss in seinen Erinnerungen – vielleicht ein wenig als Apologie, jedenfalls durchaus illustrativ.

Wie detaillierte hier eine liberale Wirtschaftspolitik scharfsinnig im Gegenüber mit den Nationalsozialisten entwickelt und deren primitive Slogans als undifferenziertes Unwissen entlarvt werden, liest sich genial. Die von den Nazis für sich reklamierte „Sehnsucht“ der deutschen Jugend „nach einer antikapitalistischen Ordnung der Dinge“ (431) ironisiert Heuss, indem er die „Elitenbildung“, die „neue Aristokratie“ der nationalsozialistischen Bewegung als neues und altes „Bonzentum“ (433) diffamiert.
Heuss polemisiert namentlich gegen Gregor Strasser, Hermann Göring und Dr.Goebblels, der Heuss mit ständigen Zurufen („Was wollen Sie eigentlich in diesem Haus. Sie haben ja gar keine Ahnung mehr“, 419) unterbricht und von diesem gemaßregelt („Sie haben einmal einen Augenblick die Freundlichkeit, Ihr erregtes Getue zu mäßigen, soweit ihnen das möglich ist“, 419) später den Saal verläßt (oder war es Göring?). Die Selbstinszenierung Hitlers im Wahlkampf nennt er eine „Heldenepopoe“, die das „Grausamste an Kitsch“ (436) sei.

Dem württembergischen Landsmann Wilhelm Groener, ein parteiloser General im Amt als Reichsminister des Innneren, wirft Heuss vor, gegen die „Terrorisierung“ (433) durch die Nationalsozialisten nichts unternommen zu haben, obwohl die „SA (…) schon lange beobachtet worden“ (432) ist und eine entschiedene „Abwehr des Staates“ bedürfte“; „warum haben Sie dann nicht gleich die SA aufgelöst“, fragt er zu recht. Angesichts heutiger Diskussionen über die wehrhafte Demokratie ein mutiges Wort in die gleiche Richtung.

Hier noch ein paar Auszüge als Spitzen aus der Rede vor dem Reichstag am 11.05.1932:

Aber die Nationalsozialisten befinden sich in einer geradezu grotesken Lage, daß sie einen liberalen Rechtsstaat deklamieren, während sie selber für den totalitären Machtstaat sind. (435)

Ich habe mir so viel dummes und auch böses Zeug von Nationalsozialisten in meinem Leben über mich ergehen lassen müssen, daß Sie mir schon lange nicht mehr auf die Nerven fallen. Ich bin auf diesem Gebiet ganz immun geworden. (435 f.)

Wenn (…) pathetisch vom ‚Dritten Reich“ geredet und uns der neue Typ, der neue Stil des kommenden Deutschlands angekündigt wird, diese Woche (…) hat uns gelehrt: Die Ausstattung des Dritten Reichs wird aus einem Großausverkauf von neulackierten und aufgeputzten Ladenhütern der wilhelminischen Epoche bezogen sein (…), und davon, meiner Herren, haben wir, denke ich, genug gehabt. (437).

Im Rückblick gesteht Heuss, dass er „ohne Ahnung“ war „über den Charakter der Dinge, die da kommen würden“ (437).
In seiner 1932 veröffentlichen historisch-politischen Studie Hitlers Weg (immerhin über 150 Seiten) analysiert er das Phänomen und verurteilt insbesondere die Rassenideologie und den Antisemitismus, die in Mein Kampf zum Ausdruck kommen. Vieles jedoch beschreibt er nüchtern und neutral. War ihm vielleicht sein bildungsbügerlicher Hintergrund ein Hindernis, die totalitäre Radikalität und den Wahnsinn hinter allem wahrzunehmen  (vgl. die Beurteilung in Ernst Wolfgang Becker, Mit Nazis reden? Theodor Heuss’ Blick auf »Hitlers Weg« (1932))?

Wie war Weimar?
Eine Frage, die uns der Autobiograph letztlich schuldig bleibt. Die nationalsozialistische Propaganda hatte „Weimar“ bis zur Unkenntlichkeit verunglimpft. In den Anfangsjahren der Bundesrepublik rang man um ein neues Bild und meinte das „Versagen von Weimar“  am chaotischen Parteiensystem und der „Fehlkonstruktion von Paragraphen“ in der „Verfassung“ festmachen zu können. In Bezug auf die Freiheiten „kam die Legende in Umlauf von den ‚goldenen zwanziger Jahren‘ (348). Beides trifft nach Heuss nicht zu.
Wie wäre die Weimarer Zeit dann zu verstehen, die uns in den Erinnerungen eines Zeitgenossen präsentiert werden?

Das Schwabenfazit mit ein bisschen Würdigung

Vielleicht hat man es schon herausgelesen – ich hatte mir mehr erwartet oder vielleicht einfach mehr aus dem direkten politischen Alltagsleben.
Das Konzept des Buches aber ist Erinnern: über 450 Seiten eine fast assoziative Aufreihung von Erlebnisstückchen eines Honoratioren, der es sich erlaubt, sein Urteil über andere berühmte Zeitgenossen abzugeben und sich nur besondere Häppchen aus der Zeit herauszupicken. Nicht selten habe ich nur schwer verstanden – was an meiner mangelnden Kenntnis liegen kann oder am geringen Bemühen des Autors – was der Clou oder auch nur die Bedeutung des Erzählten sein sollte, weil zu wenig Kontext vermittelt wurde.
Es war laut Einleitung eines seiner gesteckten Ziele, über seine Zeitgenossen zu schreiben und dabei den „Menschen zu zeigen und zu beurteilen, wie ich ihn sah (…), nicht wie spätere Selbstdarstellung und Legendenbildung seine Erscheinung mitgebildet haben“ (11), wohl wissend, wie „subjektiv“ dies ist. Aber ist es das, was man von einem aktiven Mitwirkenden in der Politik erwarten würde?
Eine „Geschichte dieser Zeit“ (12) zu schreiben, wie Konrad Adenauer seinem Kollegen prognostiziert hatte, ist jedenfalls nicht dabei herausgekommen.

Ohne Not lässt Theodor Heuss in seinen Memoiren unerwähnt, dass er selbst am 13. März 1933 zu Hitlers Machtergreifung aktiv mit seiner Ja-Stimme im Reichstag beigetragen hat. Ich fände dieses Verhalten angesichts der Drohungen und tatsächlich stattgefundenen Verhaftungen und Morden im Anschluss an diese Abstimmung durch die Nazis menschlich nachvollziehbar. Jedoch zu suggerieren, dass man als Abgeordneter nur noch passiv „Zeuge sein konnte der Schlußentartung der parlamentarichen Möglichkeiten“  (444) oder gar „diesem Parlament nicht mehr angehört“ (445) zu haben, wirft Fragen auf. Auch Heuss unselige Rolle beim Verfassungsartikel „Schutz der Jugend vor Schmutz und Schund“ (342) ist ein eher dunkler Fleck, der in den Erinnerungen nicht weiß gewaschen wird (was aber fast schon wieder sympathisch ist!).
Urteilen kann ich darüber nicht. Befremdet sein schon.
Vielleicht habe ich beim Lesen schlicht die Distanz zu einem Mann gespürt, der, wie seine eigene Frau durchaus kritisch anmerkt, „nie die schwäbische Gelassenheit“ (Bürgerin, 177) verliert. Diese „Angst vor starken Gefühlen“ (Bürgerin, 162), wie es Elly Heuss-Kapp bei ihrem Theodor bemängelt, bewirkt womöglich eine rationale Kälte in der Darstellung, die fast unbeteiligt wirkt und menschlich fern, obwohl er eigentlich viel zu erzählen hat.

Treffend vielleicht auch eine Anekdote, wie ein Kommunist in einem politischen Rededuell über Theodor Heuss urteilt, nämlich dass er der typische „Fall eines Mannes bürgerlicher Erziehung“ sei, „dem auch bei redlichem Bemühen nicht glücken könne, die Gesetzmäßigkeit des Marxismus richtig zu erfassen“ (238). So ist es mir nicht ganz geglückt, die Brücke über die Generationen hinweg zu schlagen und von den Memoiren Theodor Heuss begeistert zu sein.

Womöglich ist das sogar typisch provinziell schwäbisch, dieses literarisch verschnörkelte Abrechnen mit politischen Gegnern wie auch das honorige Würdigen von Wegbegleitern und großen Momenten. Ein Blick des bürgerlichen Kleinstädters auf das großen Geschehen in Berlin. Dennoch hat es ein paar interessante Einblicke in die politische Kultur der Weimarer Zeit zugelassen – insofern bin ich dankbar für die Lektüre.
Parallel habe ich übrigens die autobiographischen Bücher von seiner Frau Elly Heuss-Knapp gelesen und bin dort einer viel lebendigeren Art begegnet, eigene Geschichte zu erzählen. Mehr davon in einem der nächsten Beiträge.

Theodor Heuss: Erinnerungen. 1905-1933, Rainer Wunderlich Verlag / Hermann Leins 1961, 460 Seiten.

Elly Heuss-Knapp: Bürgerinnen zweier Welten, Rainer Wunderlich Verlag / Hermann Leins 1961, 388 Seiten.

 Links

Becker, Ernst Wolfgang: Mit Nazis reden? Theodor Heuss’ Blick auf »Hitlers Weg« (1932), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 18 (2021), H. 2)

Theodor Heuss (Wiki)

Theodor Heuss 1884-1963 (LEMO) Tabellarische Biographie

 
Margarethe von Wrangell
Theordor Heuss: Erinnerungen 1905-1933
Rudolf Braune: Das Mädchen an der Orga Privat
Thomas Ziebula: Der rote Judas
Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland
Volker Weidermann: Das Buch der verbranten Bücher
Sebastian Haffner: Die Geschichte eines Deutschen
Sebastian Haffner: Von Bismarck bis Hitler
Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
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