Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund

Panoptikum eines Krisenjahres

Wie man es von einem historischen Publizisten erwarten darf, der sich ereignishafte Perioden der europäischen Geschichte herausgreift, ist auch das zweitjüngstes Werk „Deutschland 1923“ (C.H.Beck 2022) von Volker Ullrich ein inhaltsreiches, illustratives Bilderbuch der Zeit. Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) hat es in ihre Schriftenreihe (Bd. 11034) aufgenommen, was die Qualität des darstellenden Ansatzes würdigt. Zudem ist es auf diese Weise günstig zu erwerben.
Ich habe mich durch die Seiten gelesen wie bei einem spannenden Krimi – einer der Sorte, der aus verschiedenen Perspektiven um die Handlung kreist. Bei Ullrich kommen die Stimmen der Zeit reichlich zu Wort aus Quellen, die zwar gut bekannt und zugänglich, aber geschickt zusammengestellt sind: Artikel aus digital archivierten Zeitungen (Deutsche Allgemeine Zeitung, Berliner Tagblatt, Vossische Zeitung) und der Weltbühne, Akten der Reichskanzlei, Tagebücher/ Briefe wie Harry Graf Kessler, Victor Klemperer, Thea Sternheim, Heinrich und Thomas Mann, sowie biografische Erinnerungen von Sebastian Haffner, Theodor Heuss, Stefan Zweig, u.a. Allein diese Aufzählung zeigt, dass die Auswahl nicht im Sinne der Meinungsverhältnisse der damaligen Zeit neutral ist (mit einem deutlichen Schwerpunkt auf die republikanischen Sichtweisen), aber dennoch ausgewogen vielfältig – ich habe es als „Panoptikum“ des Jahres empfunden.
Aufgeteilt ist das Buch nicht chronologisch, sondern gemäßt dem thematischen „Knäuel der Krisenphänomene“ (11). Stationen im Schicksalsjahr sind verkürzt: Einmarsch an Rhein und Ruhr, deutscher Oktober und Hitlerputsch, Hyperinflation und Rentenmark, Kultur trotz Krise. Ich werde das Buch nicht genau wiedergeben, sondern versuchen die großen Linien des Jahres daran entlang nachzuzeichnen.

I. Kampf an Rhein und Ruhr

Wie stark das „Sicherheitsbedürfnis“ (17) der Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg war, lässt sich leicht an den gigantisch angelegten Militäranlagen der Maginot-Linie ersehen, die ab 1930 entstanden und im Zweiten Weltkrieg dennoch keinen Schutz boten. Bei Wanderungen im Elsass bin ich immer wieder irritiert, wie sich mitten im Wald riesige Festungswälle auftun – ein Zeichen des tiefen Misstrauens der beiden Nationen zu dieser Zeit.
Direkt nach dem Ende 1918 besetzten die Alleierten die linksrheinischen Gebiete inklusive der Pfalz bis Mannheim und einigen Pufferzonen um Köln. 1921 kamen als Sanktionsmaßnahme für nicht erfolgte Reparationszahlungen weitere Ballungszentren (z.B. Düsseldorf) hinzu. Das 1872 von Deutschland eroberte Lothringen und Elsass blieb dauerhaft bei Frankreich, die anderen Teile wurden im Wesentlichen erst 1930 wieder übergeben.

Reparationen
Warum die Besetzung am 11. Januar 1923 von Orten zwischen Ruhr und Lippe wie Gelsenkirchen, Bochum, Recklinghausen und Dortmund – die Kohleregion Deutschlands – mit knapp 100.000 Soldaten aus Frankreich (und einem Kontigent aus Belgien) zu einem solchen Aufschrei in Deutschland führte, war vor allem dem eigentlichen Grund dieser Maßnahme geschuldet. Offiziell ließ der französische Präsident Poincaré verlauten, dass „es sich bei dem Einmarsch nicht um eine militärische Aktion“ handle. „Vielmehr sollten die entsandten Truppen lediglich den Schutz einer Kommission aus französischen und belgischen Ingenieuren übernehmen“ (29). In Wahrheit war geplant, mit der Besetzung die Reparationszahlungen, mit denen Deutschland im Rückstand war, in Form von Kohle als „Pfand“ sicherzustellen.
Mit dem Versailler Vertrag vom Juni 1919 war die alleinige Kriegsschuld auf Deutschland und Österreich festgeschrieben, die Tilgung durch Reparationen wurde in verschiedenen Konferenzen bis 1921 auf 226 Milliarden Goldmark mit einer Tilgung auf 42 Jahre bestimmt.
Von mir nachrecherchiert (Wirtschaft und Statistik, 1921) hatte der Haushalt des Reichs 1920 Einnahmen von knapp 60 Milliarden Mark, aber Staatsschulden aus dem Krieg von über 150 Milliarden. Die Abtrennung von Elsass-Lothringen und Teilen Preußens bedeutete einen enormen Verlust an Montan-Industrie und landwirtschaftlicher Produktion. Dass diese Gemengelage keinen guten Ausgang nehmen konnte, liegt aus heutiger Sicht auf der Hand. Ausländisches Kapitel zog sich zurück, die Währung verfiel zusehends mit vielen weiteren Konsequenzen.
Im April 1922 reduzierten die Alleierten die Forderung auf 132 Milliarden mit jährlichen Raten von 3 Milliarden, was nicht komplett unrealistisch war. Die deutsche Regierung unter Reichskanzler Wirth konnte 1922 auch diesen Betrag nicht aufbringen. Als die darauf folgende Regierung unter Cuno mehrfach um Zahlungsaufschübe bat und weiter im Rückstand bliebt, reagierte Frankreich am 11. Januar 1923 mit der Besetzung.

An verlorener Front
Durch die militärische Aktion war das Maß der empfundene „Schuldenknechtschaft“ (19) Deutschlands übervoll. Die Aufschreie des Protests gingen durch alle politischen Lager. Die offizielle Regierungsnote nannte es die „denkbar schwerste Verletzung der deutschen Hoheitsrechte“ (33). Ein erneutes Aufflammen des Krieges war nicht weit entfernt, jedoch beschränkte sich die Truppenstärke Deutschlands durch Versailles auf 100.000 Soldaten – ein zahnloses Rumpfheer.
Ein breiter Meinungskonsens zwischen Gewerkschaften, Industrie und politischen Parteien fand sich schließlich im passiven Widerstand, der anfangs erfolgreich umgesetzt wurde. Beamte verweigerten die Zusammenarbeit, Arbeiter traten in den Ausstand, Industrielle setzten die Produktion bei Kohle und Stahl aus. Sabotageakte waren gut organisiert.
Die Reaktion der französischen Besatzer folgte prompt: Bis Oktober wurden „rund 140.000 Personen, darunter 37.000 Beamte häufig mitsamt ihren Familien ausgewiesen“ (44) und eine Zollgrenze zum Reich eingeführt. Namhafte Bergwerks- und Strahlindustriedirektoren fanden sich kurzerhand in Haft wieder mit langjährigen Strafen. Arbeiter im Transportbereich ersetzte man durch Willige aus Elsass und Lothringen. 109 Menschen, u.a. beim Essener Blutsamstag (31.03.), wurden bei Zusammenstößen mit französischen Truppen getötet, Rädelsführer und Saboteure zum Tode verurteilt – ein weiterer Akt französischer Rechtswillkür.

Die Kosten für den passiven Widerstand, etwa durch Fortzahlung der ausgewiesenen Beamtenbezüge (sogenannte „Cuno-Rentner“ – weil unter der Regierung Cuno, 46) und Arbeitergehälter „führten zu einer außerordentlichen Beschleunigung der Inflation“ (62). Auch dieser Kampf war verloren. Es drohte sogar die Abspaltung der Rheingebiete vom Reich durch eine von Frankreich unterstützte Separatistenbewegung.
Erst der nächste Kanzler Stresemann rang sich am 27. September 1923 unter dem Motto „Nachgiebigkeit in materiellen Dingen, aber Unnachgiebigkeit in der Verteidigung deutschen Bodens“ (116) zu der politisch äußerst unpopulären Entscheidung durch, die inzwischen desaströsen Maßnahmen des Widerstands zu beenden und wieder in Verhandlungen mit den Alleierten einzutreten.
Die nationalen Rechten prangerten diesen diplomatischen Schritt als erneuten „Verrat“ am deutschen Volk an und riefen dazu auf, dem Kanzler das Schicksal Rathenaus und Erzbergers zuteilwerden zu lassen (beide durch rechte Gruppen ermordet!). Bayern rief als Reaktion den Ausnahmezustand nach Artikel 48 aus und übertrug dem Generalkommissar von Kahr die Regierung ohne Parlamentszustimmung. Die Reichsregierung wiederum verhängte daraufhin den Ausnahmezustand für ganz Deutschland. Die Bedrohung der Republik von Innen war sehr real geworden.

2. Deutscher Oktober und Hitlerputsch

Angesichts der nach oben schießenden Inflation und dem kriegerischen Akt Frankreichs – so zumindest wurde es empfunden – zerbrach das Vertrauen in die Republik. „Man sagt sich jeden Tag, nun müsse eine Katastrophe eintreten – ich weiß nicht welche, aber irgendeine: Zerfall des Reichs, Bürgerkrieg, irgendein Sturm (…) immer bleibt die gleiche verpestete Stille“, schreibt Viktor Klemperer am 14.10.1923 in sein Tagebuch (Klemperer, S. 253).

Revolution
Die Kommunisten sahen ihre Chance zur Revolution und bereiteten sich unterstützt durch Russland auf den Kampf vor. Als jedoch erste Versuche in Sachsen und Thüringen, die Arbeiter für die Sache zu gewinnen, wenig Erfolg zeigten und die Reichswehr kurzerhand einmarschierte, wurde die Revolution von höchster Stelle – Stalin soll beteiligt gewesen sein – abgeblasen. Nur in Hamburg kam es am 22.10.1923 zu einem Aufstand der KPD-Treuen unter Ernst Thälmann (!) mit dem Ergebnis von 61 Toten.
Die Bedrohung von rechts war genauso real. Der größte Unternehmer Deutschlands, Hugo Stinnes, forderte Ende September zur Produktionssteigerung die Wiedereinführung des 10-Stunden-Tages, auch mit Gewalt: „Deshalb (…) muss ein Diktator gefunden werden, ausgestattet mit Macht, alles zu tun, was irgendwie nötig ist. So ein Mann muss die Sprache des Volkes reden und selbst bürgerlich sein, und so ein Mann steht bereit“ (172). An wen der Industrielle dachte, ist nicht bekannt, aber es zeigt, dass der faschistische Ruf der Rechten nach dem starken Mann mehr als nur in der Luft lag, vielmehr offen ausgesprochen wurde. Auch Ernst Jünger und andere beschworen mit ihren Artikeln im Völkischen Beobachter, dem Blatt der Rechtsnationalen, die „echte Revolution“ herbei: „ihre Idee ist die völkische, zu bisher nicht gekannter Schärfe geschliffen, ihr Banner das Hakenkreuz, ihre Ausdrucksform die Konzentration des Willens in einem einzigen Punkt – die Diktatur“ (nach Ullrich, 175). Einer hat es schließlich gewagt.

Der starke Mann
Hitler war in München keine kleine Nummer, wie man manchmal denkt: „wenn Hitler spricht“ genügen die größten Säle nicht, so „dass jedes Mal Tausende, die keinen Einlass mehr fanden, abziehen müssen“ (Kölnische Volkszeitung, 8.11.1922, nach Ullrich 181). Seine Begabung ist die Rede, sein „aus dem inneren kommendes nationales Pathos“ (nach Ullrich, 181), das große Hörerschaften mitriss. Das Prinzip ist damals wie heute das Gleiche: Der gepeinigten Nation wieder „Weltgeltung“ (Hitler, nach Ullrich, 182) zu verschaffen. „Das Volk wünscht heute keine Minister mehr, sondern Führer. (…) Was Deutschland retten kann, ist die Diktatur des nationalen Willens“ (Hitler, nach Ullrich, 185). Deutlicher kann man es kaum formulieren. Der starke Mann aus München ließ keinen Zweifel, wer der Führer sein sollte.
Weite Teile der Rechten schienen mit einer Revolution in Berlin von Links gerechnet zu haben, der man als Reaktion mit vollem Recht und militärisch entschlossen entgegentreten konnte. Als diese von der Stresemann-Regierung verhindert wurde, fehlte die Legitimation. Der seit Ende September in Bayern mit Ausnahmegesetz regierende von Kahr gehörte zum rechten Lager und unterstützte die Schikane von Juden und Linken. Einen Putsch, der seit langem von Hitler als „Marsch auf Berlin“ angekündigt war, begünstigte diese Situation nicht. Durch seine großen Versprechen fühlte sich Hitler verpflichtet und entschloss sich zum „Losschlagen“ (197).
Die Ereignisse des 8. November im Bürgerbräukeller sind vielfach beschrieben. Bewaffnet dringt er mit Gefolge in den voll besetzten Saal ein und erklärt die Berliner und Münchner Regierung für abgesetzt. Mit dem anwesenden Triumvirat der bayrischen Notstandsregierung, u.a. von Kahr, verhandelt er in einem Nebenzimmer scheinbar erfolgreich und hält anschließend vor der Münchner Stadtprominenz im Bürgerbräukeller eine salbungsvolle Rede, welche die Stimmung zu seinen Gunsten neigt. Er gelobt feierlich: „Nicht zu ruhen und nicht zu rasten, bis die Verbrecher des Novembers 1918 zu Boden geworfen sind! Bis auf den Trümmern des heutigen jammervollen Deutschlands wiederauferstanden sein wird ein Deutschland der Macht und der Größe, der Freiheit und der Herrlichkeit! Amen!“ (nach Ullrich, 204).
Der Mitverschwörer und dekorierte General des großen Krieges Erich Ludendorff ist inzwischen zu den Putschisten gestoßen. Er besiegelt das schnelle Ende, weil er auf das Versprechen Kahrs die Vertreter der Regierung ziehen lässt. Ein schwerwiegender Fehler. Von Kahr dementiert sofort sein Einverständnis mit Hitler und mobilisiert Polizei und Militär. Der letzte Versuch am Morgen des 9. November, durch einen Zug vom Bürgerbräukeller zur Innenstadt die Sympathien der Bürger zu gewinnen, wird am Odeonsplatz blutig gestoppt. Hitler selbst und sein kleiner Tross werden verhaftet und verurteilt. Nur Ludendorff bleibt unbehelligt.
Carl von Ossietzky kommentiert am nächsten Tag (10.11.1923) in der Berliner Volkszeitung: „Der Götze ist gefallen. Dieser 9. November hat das verspätete, aber gerechte Urteil über den ärgsten Unglücksführer der deutschen Geschichte gebracht“ (nach Ullrich, 215). Was für ein Orakel, das sich später erst in katastrophaler Weise erfüllen wird.

3. Hyperinflation und Rentenmark

Geldentwertung
Allein die Zinsen für den Schuldenberg, den der wilhelminische Staat in vier Jahren Krieg für die Hoffnung auf einen Sieg angehäuft hatte, fraß den ganzen Steuereinnahmen der Jahre nach 1918 auf. Vor einem „Neuanfang“ „schreckten die demokratischen Nachkriegsregierungen zurück. Die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens war ihnen wichtiger als die Sanierung des Reichshaushalts und die Stabilisierung der Währung“ (73). Die Verschuldung stieg immer weiter, die Notenpresse druckte, der Wechselkurs der Mark verfiel in rasanten Schüben.


Dennoch, oder fast kurios: „Die billige Mark begünstigte die Exporte“ (74), so dass die deutsche Wirtschaft 1920-22 aufblühte und die Arbeitslosigkeit auf einen Tiefstand von 1,2% fiel. Eine Seifenblase, die mit dem Mord an Walter Rathenau am 24. Juni 1922 zerplatzte. Das Vertrauen des Auslands in die deutsche Mark schwand damit vollständig dahin – der rasante Absturz der Währung – die Hyperinflation – begann.
Der Wechselkurs von Dollar zu Mark stand nach dem Krieg bei 4,20, bis Ende 1922 sank die Mark um den Faktor 2000 auf über 8.000. „Der passive Widerstand, den die Regierung Cuno im Januar 1923 proklamierte, versetzte der deutschen Währung den Todesstoß.“ (Ullrich, 79). Im Februar liegt der Kurs bereits bei 21.000, um im Sturzflug bis zum November dieses Jahres in unzählige Millionen bis zu mehreren Milliarden abzufallen.
Bilder von Schubkarren mit Geld, die für kleinere Anschaffungen bezahlt werden, oder wie wertlose Scheine zum Heizen genutzt werden, gehen um die Welt, sind uns bis heute aus den Schulbüchern präsent. Es kaum zu ermessen, was dies für den Alltag bedeutete.
Mit dem Wochenlohn musste man zum Warenladen eilen, um überhaupt noch etwas dafür zu bekommen, so schnell verfiel das Geld. Weil sich das Geschäft für die Landwirtschaft nicht mehr lohnte, wurden die Städte jedoch kaum mehr mit Lebensmitteln beliefert, so dass sich unendliche Schlangen für ein winziges Angebot bildeten.

Gewinner und Verlierer
Die Inflation schuf eine Verunsicherung unvorstellbaren Ausmaßes in weiten Teilen der Bevölkerung. Hart traf es die sogenannte bürgerliche Schicht, die Angestellten und Beamte, deren monatliche Bezüge weit hinter der Inflation zurückblieben. Mehr noch, dass alle Geldwerte wie Erspartes, Kriegsanleihen, Kapital-Versicherungen vollständig wertlos wurden – die Vernichtung der Lebens- und Alterssicherung.
„Auch in vielen Arbeiterfamilien kehrte bittere Not ein“ (83). Nivellierte die Inflation anfangs die Löhne und schuf damit eine Angleichung zwischen Ungelernten und höher Qualifizierten, riss die Hyperinflation alles ins Bodenlose. Ebenso groß war das Elend bei den Rentnern.
Wer dagegen über Devisen verfügte oder gar als Ausländer in Deutschland lebte, konnte sich Dinge leisten, die vorher niemals möglich waren. Nicht wenige nutzten die Situation aus und befeuerten „ausländerfeindliche Stimmungen“ (87).
Gewinner waren auch die „Sachwertbesitzer, deren Vermögen an Grund- und Hausbesitz durch die Geldentwertung unangetastet blieb, sowie alle jene, die Schulden gemacht hatten“ (83). „Die Flucht in Sachwerte“ (102) war ein geflügeltes Wort. Großindustrielle machten diesem Umstand zum Geschäftsmodell und kauften auf Pump Firmen und Produktionsanlagen zu niedrigsten Preisen, allen voraus der König der Inflation, Hugo Stinnes, dessen Wirtschaftsimperium in diesem Jahr ein in Deutschland nicht gekanntes Ausmaß erreichte. Wie oft in solchen Ausnahmesituationen profitierte eine kleine reiche Schicht und verschob die Vermögensverteilung weiter zu ihren Gunsten.
Wer es wagte, konnte sein Geld noch gewinnbringend an der internationalen Börse anlegen, was eine kleine Schar von vor allem jungen Spekulanten hervorbrachte, die plötzlich weit reicher wurden als ihre Eltern. „Es war eine Lage, in der Geistesträgheit und Verlaß auf frühere Erfahrungen mit Hunger und Tod bestraft, aber Impulshandeln und schnelles Erfassen einer neuen Lage mit plötzlichem ungeheurem Reichtum belohnt wurde. (…) Jetzt hatten auf einmal die Jungen und nicht die Alten das Geld“ (Haffner, 58, in Ullrich zitiert). Die „traditionellen bürgerlichen Eigentumsbegriff“ (103) schwanden dahin.
Wie man sich leicht vorstellen kann, bewirkte die Inflation den größten Verlust auf der Seite der traditionellen gesellschaftlichen „Normen und Werte. Tugenden wie Sparsamkeit, Rechtschaffenheit, Gemeinsinn verloren ihre Verbindlichkeit; Egoismus, Skrupellosigkeit, Zynismus waren Trumpf.“ (87), aus Sicht des Bürgertums ein „Verfall der Sitten“ (96), der verschiedenste Stilblühten hervorbrachte: Öffentliche Präsenz von Nacktheit und Prostitution, „Clubs, Bars, Nachlokale schossen wir Pilze aus dem Boden“ (98), eine Vergnügungssucht im Angesicht der Apokalypse.
„Raffkes“ und „Schieber“ (95) stachen aus der Masse hervor, „fuhren schnelle Autos, rauchten teure Zigaretten, speisten in ‚Schlemmerlokalen‘ – und umgaben sich mit mondänen Frauen. „Taschendiebe hatten Hochkonjunktur“ (104).

Die Rentenmark
Ausgerechnet eine Regierung unter der Leitung eines ehemals monarchistisch gesonnenen Politikers schafft es, der Inflation Einhalt zu gebieten. Gustav Stresemann wird als Vorsitzender der DVP am 13.08.1923 zum Reichskanzler einer großen Koalition gewählt, beendet den teuren passiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung und scheitert mit seiner Regierung bereits am 04. Oktober an inneren Auseinandersetzungen (u.a. mit seinem Parteigenossen Hugo Stinnes). Der Reichspräsident Ebert beauftragte ihn jedoch weiterhin mit einer Minderheitenregierung, die immerhin bis zum 20. November hält. Ausgestattet mit weiten Befugnissen aus dem Ermächtigungsgesetz reicht diese kurze Zeit, um die entscheidenden Gesetze für ein Ende der Währungskrise herbeizuführen.
Nachdem Anfang Oktober der Dollar bereits bei über einer Million stand, beschließt am 15. Oktober das Kabinett die „Gründung einer Rentenbank“. Viele Ideen waren diskutiert worden, wie die Stabilität der Währung wieder erreicht werden könnte – sie brauchte statt des Papiers einen realen Gegenwert. Die Lösung war dann die zwangsweise Beleihung von Besitz aus Landwirtschaft, Industrie und Handwerksbetrieben mit einer Grundschuld, eine Deckung von über 3 Milliarden entstand, wovon 1,2 Milliarden „dem Reich zur Verfügung gestellt“ wurde, „500 Millionen als zinsloses Darlehn“ (136). Ab 15. November wurde die Rentenmark mit einem Wechselkurs zur Papiermark von 1 : 1 Billion herausgegeben, was wegen der noch einmal exponentiell verfallen Mark „eine Rückkehr zum Vorkriegsdollarkurs von 4,20“ (249) bedeutete.
Das „Wunder der Rentenmark“ gelang. Dieses Zahlungsmittel behielt seinen Wert, sehr zum Erstaunen aller. Man „erhielt seine Ware – Ware im Werte einer Billion“, wie der Augenzeuge Sebastian Haffner (Haffner, 67, zitiert in Ullrich 249) zu berichten weiß. „Das gleiche geschah am nächsten Tag, und am Tag danach, und am folgenden Tag. Unglaublich.“ „Auch die Landwirtschaft fasste Vertrauen zur neuen Währung und belieferte die Städte wieder mir Ihren Produkten“ (250), so dass plötzlich alles wieder zu kaufen war, Kartoffeln und Getreide, selbst Butter – die Schlangen vor den Geschäften waren verschwunden. Weitere Maßnahmen zur Senkung der Ausgaben des öffentlichen Haushalts wie die Senkung der Beamtenbezüge kamen ebenso stabilisierend hinzu wie auch die Erhöhung einiger Steuern (v.a. Umsatzsteuer).
Außenpolitisch konnten mit den Alleierten Ende November die Reparationszahlungen für Kohle festgelegt werden, so dass die lahmgelegte Ruhrwirtschaft immerhin wieder anlaufen konnte.

4. Kultur trotz Krise

Von den kulturellen Highlights will ich nicht aus zweiter Hand schreiben.
Filme wie „Der Absturz“ mit Asta Nielsen, das Historien-Epos „Fridericus Rex“ und Charly Chaplins „The Kid“ wurden geliebt und heftig kritisiert. Das Theater, allein in Berlin mit 50 Häusern, spielte gleichermaßen Stücke von Expressionisten wie Ernst Toller, des jungen Bertolt Brechts, wie auch Klassiker und kommunistische Stücke in Erwin Piscators Proletarischem Theater. Joseph Roth und Franz Kafka wirkten als Autoren in dieser Zeit in Berlin. Hundertausende vor der Revolution in Russland nach Berlin Geflüchtete entwickelten eine ganze eigene Subkultur, die überall präsent war. Dada und neue Sachlichkeit mit Künstlern wie Georg Grosz und Oskar Schlemmer („Triadisches Ballett“) wirkten, das Bauhaus mit seinem Gründer Walter Gropius u.a. zeigen ihre erste Ausstellung. Am 29. Oktober geht der erste „Unterhaltungsrundfunk“ „Welle 4000“ (315) über den Äther.
Kurz das Resümee, das Volker Ullrich aus seinem Überblick zieht „Inflation und Hyperinflation beeinträchtigten Künstler und Schriftsteller nicht in dem zu erwartenden Ausmaß, sondern wirkten eher stimulierend auf ihr Schafften.“ Die „Weimarer Kultur“ (…) entwickelte sich zu einem Laboratorium der Moderne, in dem eine Vielzahl neuere (…) Ausdrucksformen erprobt wurden.“ (274). Das Publikum ließ sich nicht durch den erschwerten Alltag abhalten, im Gegenteil, es suchte die Ablenkung davon. Allerdings „beherrschte die künstlerische Avantgarde niemals unangefochten die Kulturszene. Die neuen künstlerischen Strömungen stießen zum Teil auf heftigen Widerspruch konservativer Kreise, die an ihrem traditionellen Kunstverständnis festhielten und davon abweichende Positionen als ‚Kulturbolschewismus‘ denunzierten.

5. Die Folgen des Traumas

Obwohl nach der Überwindung der Inflation und der Belebung der Wirtschaft durch den Dawesplan (1924) die eigentlichen „goldenen Jahre“ der Zwanziger bis zum Jahr 1929 folgten, kann ich mir kaum vorstellen, dass dieses Jahr das Vertrauen in die Entwicklungen Deutschlands nicht getrübt hat. Materieller Besitz und geistige Werte waren in kürzester Zeit zerfallen – das muss wie ein Traum gewirkt haben, von dem man sich eine Zeitlang erholen mag, das aber dann in schlechteren Zeite wieder mit Macht zum Vorschein kommt.
Ähnlich empfand es Sebastian Haffner in seinen Erinnerungen: „Kein Volk hat etwas erlebt, was dem deutschen ‚1923‘-Erlebnis entspricht“. „Einer ganzen Generation ist damals ein seelisches Organ entfernt worden – ein Organ, das dem Menschen Standfestigkeit, Gleichgewicht (…) gibt.“ „Das Jahr 1923 machte Deutschland fertig – nicht speziell zum Nazismus, aber zu jedem fantastischen Abenteuer“ (Haffner, Geschichte, 54).
Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig urteilt noch dezidierter: „Der Tag, da die deutsche Inflation beendet war (1923), hätte ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte werden können. (…) Die meisten, die riesige Masse hatte verloren. Aber verantwortlich gemacht wurden nicht die den Krieg verschuldet, sondern die opfermütig – wenn auch unbedankt – die Last der Neuordnung auf sich genommen. Nichts hat das deutsche Volk (…) so erbittert, so haßwütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation.“
Trotzdem greift es zu kurz, von einer zwangsläufigen Entwicklung bis zum Ende der Weimarer Republik auszugehen. „Sie hatte 1923 ihre Überlebensfähigkeit bewiesen, und sie hätte auch die noch schwereren Jahre 1930-1932 überstehen können“ (352), schließt Volker Ullrich.

Volker Ullrich: Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund,Bundeszentrale für politische Bildung 1923, Schriftenreihe Band 11034, 441 Seiten.

Weitere Quellen:

Klemperer, Victor: Tagebücher. 1922-1923, Herausgegeben von Walter Nowojski, Berlin 2000 (Aufbauverlag 1996).
Haffner, Sebastian: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Deutsche Verlagsanstalt 2002 (3. Auflage, 2014).
Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Insel Verlag 2022 (1. Auflage 2013, original: 1942).

Die Bilder sind der Zeitschrift „Zeitbilder“ von 1923 entnommen.

Links:

Wirtschaft und Statistik: Herausgegeben vom Statistischen Reichsamt, Verlag von Reimar Hobbing; Jahrgang 1, Nummer 3, 24. März 1921

 
Volker Ullrich
Margarethe Ludendorff
Adolf Hölzel
Adolf Hölzel
Margarethe von Wrangell
Theordor Heuss: Erinnerungen 1905-1933
Rudolf Braune: Das Mädchen an der Orga Privat
Thomas Ziebula: Der rote Judas
Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland
Volker Weidermann: Das Buch der verbranten Bücher
Sebastian Haffner: Die Geschichte eines Deutschen
Sebastian Haffner: Von Bismarck bis Hitler
Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
Hans Fallada: Kleiner Mann - was nun?
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