Frauschicksale in Stuttgart

„Frauen“ – Stuttgarter Schicksale

Dr. Else Kienle: „Aus dem Tagebuch einer Ärztin“ von 1932

Hedwig Weber, Grundschullehrerin in Stuttgart der 1920ger, ging viele Jahre ganz in ihrem Beruf auf, so dass dieses Engagement „ihre Ehe und Mutterschaft unmöglich“ machte. Spät lernte sie in den Ferien einen Kollegen kennen und lieben. „Der Mann war mit einer schwerkranken Frau verheiratet, die seit sieben Jahren gelähmt zuhause lag. (…) Aber mit der Krankheit war eine erschreckende seelische Veränderung mit ihr vorgegangen. Die Leidende verlor jegliches Interesse für alle Vorgänge, die nicht unmittelbar ihrer Krankheit zu tun hatte. Despotisch verlangte sie Fürsorge und Mitleid“. Trotz langem Bemühen und der Aussicht auf eine gute Versorgung gab die Gelähmte ihren Mann nicht frei. Hedwig wartete auf ihre Liebe, war schwanger. „Da wußte die Lehrerin, daß sie ihr Kind nicht austragen durfte. Der späte Traum war zu Ende. Sie würde allein bleiben. (…)
Sie verschaffte sich ein Gift, das in verdünnter Lösung Wehen erregen sollte. Als sie nicht sofort einsetzten, nahm sie immer stärkere Dosen. (…) Der gewollte Erfolg war da. Die Leibesfrucht war beseitigt“. Aber die „Verbrennungen und Verätzungen“ machten sie für immer zu einer „siechen Frau“ (Frauen, 120 ff.).

Berührend und himmelschreiend
Else Kienles
Dokumentation von Stuttgarter Frauen, die durch ihre Schwangerschaft in große Not geraten, ist schlicht berührend. Und zugleich himmelschreiend. Exemplarisch für die Verhältnisse in der Zeit der Weimarer Republik. Am 20. Februar 1931 wird die Ärztin wegen des Tatverdachts der illegalen Abtreibung verhaftet. In der 6-wöchigen Untersuchungshaft geht sie innerlich die Fälle ihrer Praxis-Kartei durch und lässt sie zu lebendigen Schicksalen werden, „über die kein Gericht der Welt urteilen“ (Frauen, 22) dürfte. Sie hat sich aus ihrer Sicht nichts vorzuwerfen, weil sie keine Indikation, „keine einzige Unterbrechung ohne das Zeugnis eines zweiten Arztes vorgenommen“ (Fall, 536) hat. Doch Richter und Kriminalpolizei ermitteln ohne Sachkenntnis und mitleidslos – setzen die Betroffenen und Zeugen durch intensive Befragungen erneut der Not und Angst vor juristischen Folgen aus. Kämpferisch stellt sich die Ärztin allen Fällen. In der der daraus entstandenen Schrift „Frauen. Aus dem Tagebuch einer Ärztin“ brandmarkt sie die Regelung zum § 218 als männliche Doppelmoral und setzt sich beredet wie leidenschaftlich für die „Straffreiheit“ (Frauen, 136) bei Abtreibung ein.

Das aus den zahlreichen Fällen herausgegriffene Schicksal der Lehrerin Hedwig ist vielleicht nicht untypisch schwäbisch. Das spektakulärste ist es bei Weitem nicht. Die Zahl der Abtreibungen ab 1919 wird insgesamt auf knapp eine Million jährlich geschätzt (z.T. unterschiedlich gewichtete Zahlen in Rebellin 97 f.; Sexualberatungsstellen 42 f., Riepl-Schmidt in „Frauen“158), vorgenommen fast überwiegend durch Engelmacherinnen, Kurpfuscher und Eigenversuche, weshalb es in 10 % zu schwerwiegenden Konsequenzen wie Verkrüppelungen oder zum Tod (2-3 %)führte – 100.000 Frauen pro Jahr! Überwiegend trieben Frauen ab aus elend armen Familien mit vielen Kindern (80-90 %), die es nicht mehr verantworten konnten, noch ein weiteres in die Welt zu setzen. Stuttgart war davon fast genauso betroffen wie Berlin. Alle Fälle aus diesem Buch haben sich in der schwäbischen Landeshauptstadt (eigentlich „Hauptstadt des Volksstaates Württemberg“) in der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre zugetragen und nicht im Molloch der Großstadt. Das Thema ist bedrückend, hat mich so stark beschäftigt, dass ich mehr dazu schreiben musste.

Quellen
Neben der kämpferischen Schrift von Else Kienle gibt es eine ausführliche Autobiographie der Ärztin aus dem Jahr 1958, die sie nach ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten 1933 in den USA verfasst hat. Ihr Kampf gegen Abtreibung wird dort als „Friedenspartei“ (Skalpell 193 ff.) der Frauen kaschiert – vermutlich ein Zugeständnis an die aktuelle gesellschaftspolitische Situation ihres Gastlandes.
In den mageren Quellen zu der schwäbischen Ärztin geforscht und eine kurze Biographie verfasst hat Verena Steinecke. Ich habe im Wesentlichen die beiden Originalschriften verwendet und für die zeitgeschichtlichen Hintergründe eine Forschungsarbeit zu den Sexualberatungs­stellen der damaligen Zeit (von Kristine von Soden) mit recherchierten Zahlen und Fakten. Allerdings bleibt das eine oder andere historisch fragwürdig, insbesondere die Geschichten über intensive persönliche Begegnungen mit Nazigrößen aus der Autobiographie.

Stuttgarter Frauen

Das Buch
Der Spannungsbogen ist wirklich gut gezogen – in dem ersten Teil liest sich alles wie ein live verfasstes Tagebuch, in dem die Autorin ihr eigenes Schicksal hinter Gittern schildert. Die Zelle ist karg und nur eine „jammervolle, halbausgeglühte Birnen“ (Frauen 24) brennt an der Decke. Täglich wird sie in einem bitterkalten Wagen mit anderen zum Gericht gefahren und erfährt auch hier schon von den traurigen Lebensumständen ihre Mitinsassinnen. In all den einsamen Stunden erinnert sie sich an ihre Patientinnen. „Die hunderte von Frauen und Mädchen ziehen an mir vorbei, mit ihrem Leid, ihren Kämpfen, ihrer Verzweiflung, ihre Hoffnungen. (…) Und nun stand ich für sie alle vor dem Richter und sollte ihr schweres Dasein bezeugen.“ (Frauen 25). Die Ärztin Kienle wird sich bewusst, dass die Anklage gegen sie zweitrangig ist gegenüber der viel größeren „Aufgabe“ (Frauen 25), für die Rechte der Frauen zu kämpfen.
Entsprechend schildert Else Kienle in dem großen zweiten Teil die Schicksale in ihren beruflichen Abschnitten, zunächst als Ärztin einer Polizeistation des Katharinenhospitals, in dem die Prostituierten untersucht und bei Geschlechtskrankheiten zwangsbehandelt wurden. Als zweites Krankheitsfälle in ihrer eigenen Praxis, um dann sehr ausführlich auf „die Krankheit dieser Zeit“, das „unerwünschte Kind“ (Frauen 62 f.) mit zahlreichen Fallbeispielen einzugehen.
All diese Dramen und deren „wahren Hintergründe“ (Frauen 137 ff.) reflektiert sie in einem dritten Teil, der sich wie ein Traktat oder Manifest für Frauenrechte liest. Staat und Wirtschaft brauchen „Soldaten“ und „Menschenmassen“, weshalb das Verbot der Abtreibung eine „bittere Notwendigkeit“ darstellt. Für die Kirche war der Zweck der Ehe immer schon das Kind und die Abtreibung ein „Todsünde“. In der Medizin werden deshalb und mit „moralischer Heuchelei“ die „ungefährlichen und hygienischen Methoden der Unterbrechung gar nicht mehr“ gelehrt.
Niemand ist für die Abtreibung, stellt Else Kienle klar heraus. Niemand will „ein Ungeborenes morden, seine Seele ihrer ewigen Seligkeit berauben (…) Nur in den Köpfen verblendeter und fanatischer Anhänger der Abtreibungsstrafe konnte eine so unsinnige Meinung sich bilden.“ (Frauen 145). Viel mehr ist es ein Akt der Menschlichkeit: „Die Regelung der Abtreibung auf eine menschenwürdige Art soll nur ein erster, vorbereitender Schritt sein zur Geburtenregelung durch Vorbeugung“ (Frauen 145).

Gefallene
Die Abteilung für Geschlechtskrankheiten des Stuttgarter Katharinenhospitals in der Kriegsbergstraße bestand aus grauen Gebäuden, den „Baracken“ (Skalpell 113; vielleicht die Gebäude VI-VII auf dem Plan von 1928), einem für Männer, für Frauen und das dritte für Prostituierte, die Polizeistation. Die allermeisten Frauen hatten sich ohne ihr Wissen durch ihren Mann mit der damals schwer heilbaren Syphilis oder mit Tripper angesteckt. Manche waren freiwillig in Behandlung, viele zwangseingewiesen. Prostituierte, sofern sie wie aus den Freudenhäusern in der Klosterstraße (eine heute nicht mehr existierende Straße am Marktplatz beim alten Rathaus) registriert waren, wurden regelmäßig vom Amtsarzt der Sittenpolizei untersucht, die „Straßendirnen“ (Skalpell 113) bei Razzien aufgegriffen und ebenfalls untersucht. Bei einem Befund wurden sie staatlich verordnet in der Polizeistation zur Zwangsheilung kaserniert. Der Chefarzt Sanitätsrat Dr. Hammer (im Buch „Dr. Jäger“) beherrscht das kleine Reich durch mitleidslose Strenge – „eine der furchtbarsten aller Elendsstätten“. Die junge Ärztin ist der „Verzweiflung nahe“ (Frauen 30 f.). Die Frauen wussten, dass das ärztliche Personal sie weder verstand noch verstehen wollte, sie aus „einer anderen Welt“ stammten. Ein Ansporn für Else Kienle, sich trotz ihres eigenen bürgerlichen Hintergrunds dieser Frauen anzunehmen.
Gertrud (Frauen 38 ff.). Der Vater ist früh gestorben. Bereits als Vierzehnjährige wird sie ein fleißiges „Zugehmädchen“ bei „reichen Leuten“. Bis der Sohn des Hauses sie eines Tages verführt und Gertrud ohne Zeugnis aus dem Haus gejagt wird. Zum Broterwerb bleibt ihr nach dieser Schande nur noch die Werkzeugfabrik mit 9 Stunden täglicher Arbeit. Der Meister findet Gefallen an ihr, „bleibt nachts mit ihr zusammen“, wird ihrer überdrüssig und steckt in ihre „Lohntüte den Abbauzettel“. Als sie sich wehrt und von Nötigung spricht, wird sie sofort hinausgeworfen. „Nun findet sie keine Arbeit mehr“ und zu allem Unglück stirbt ihre Mutter. Nach einer Zeit der Resignation beginnt sie Männer mit auf die Wohnung zu nehmen für ein paar Mark, dann werden es immer mehr. Das Café, in dem die 16jährige ihre Freier anwirbt, wird polizeilich kontrolliert. Der Arzt diagnostiziert Tripper. „Und nun saß sie vor mir. Erzählt stockend, (…) später ganz offen (…) ihr kleines Schicksal, das ja nicht so besonders war, das das Schicksal Hunderttausender in dieser Zeit war“.  Würde sie eine der Stammbesucherinnen in der Baracke im Katharinenhospital werden?
Marie ist bereits nahe vierzig, ein Schatten einstiger Schönheit, eine „heruntergekommene Prostituierte“ (Frauen 40 ff.). Als Tochter eines Postsekretärs aufgewachsen ist ihre einzige Qualifikation fürs Leben eine „Haushaltungsschule“, die „sie für die gutbürgerliche Ehe vorbereitet“. Doch die frühe Ehe mit einem Kaufmann verläuft unglücklich, ihre einzige Hoffnung zerbricht. Bei der Scheidung verzichtet sie auf alle Ansprüche, um nur „schnell frei zu sein“. Auch in weiteren Beziehungen verlieren die Männer bald das Interesse, so dass sie irgendwann beschließt, das Verliebtsein der Männer besser auszunutzen. „Sie nahm sich den ersten besten. Und dann einen anderen. Und immer wieder einen neuen“. Das funktioniert, bis sie an einen Betrüger gerät, der ihr alles Geld abschwätzt, zum Fälschen von Papieren anstiftet und verschwindet. Nach dem Gefängnis ist sie gezeichnet und kann nur noch wenig Geld mit ihren Reizen verdienen. Dann wird sie krank und muss immer wieder in die „Abteilung“.
Bei den Frauen „eines festen Hauses“, sprich den Mädchen der Freudenhäuser, gab es in ganz seltenen Fällen den glücklichen Ausgang, dass sich ein „Mann fand“ und sie „ihm eine liebevolle Gattin wurde“. In der Autobiographie schildert Else Kienle die Geschichte von Alma, die „von zuhause weggelaufen“ war, „nachdem ihr Stiefvater sie wenige Wochen vor der Hochzeit vergewaltigt hatte“ (Skalpell 115 f.). Nach einem Jahr im Freudenhaus der Klosterstraße entdeckt sie ein Freund ihres Verlobten, was zu einer Aussöhnung mit Happyend führt. Die „Freien“ dagegen hatten keine Zukunft – „sie waren an ihren traurigen Beruf gekettet, meist bis sie zusammenbrachen“ (Frauen 46). 

Frauen in der Praxis
Vermutlich 1927 (siehe Anzeige) eröffnet Else Kienle eine eigene Privatpraxis für Haut-, Harn-, Beinleiden und Kosmetik in der Marienstraße 25. Parallel scheint sie eine „Beratungsstelle des Reichsverbandes für Geburtenregelung und Sexualhygiene“ (Rebellin 55 f.) gegründet zu haben (evtl. in der Neckarstraße). In dieser Zeit beginnt sie auch Abtreibungen vorzunehmen. In „Frauen“ beschränkt sie ihren Bericht in diesen Passagen nur auf Krankheitsschicksale (47-62).
Da ist das Mädchen Frieda mit offener Tuberkulose, die für ihren „schrecklichen Anblick“ gehänselt wird und Angst vor dem Leben hat. Ihr Tod erspart ihr das Leben, „das sie so sehr gefürchtet hat. Ein Mann, ohne Namensnennung, im großen Krieg erblindet, zeigt der Ärztin sein seelisches Leiden. Unter „seinen derben Stiefeln trägt er seidene Damenstrümpfe. „Er empfindet es als schmählich, als unsauber“. Eine anschaulich aufgezeigte Transvestie. Frau Wieland, eine „muntere, lebhafte Person“ wird von ihrem in Geschäften reisenden Mann mehrfach mit Tripper angesteckt, „auf verbrecherische Art krank gemacht“, bis es nicht mehr heilbar ist und sie zu einem leidende, zänkischen „Weib“ wurde.
Besonders die „unterleibskranken Frauen“, die oft nicht (vollständig) kuriert werden können, „suchen Trost, eine Betäubung, eine Ablenkung“, die einen in „Sektenglauben“, „Spiritismus“, „Astrologie“ oder sonst einer „krankhaft übersteigerten Religiosität“ Andere greifen zu Giften wie Kokain und Morphium. Eine Frau, „ein armes gequältes Wesen“, die von ihrem Mann angesteckt wurde und schwer erkrankte, verzieh ihm nicht, vergaß ihre Aufgaben als Mutter und sichte allein durch strenge religiöse Andacht am Leben erhalten. Ein „Mädchen (…) aus guten Verhältnissen“ wird nach dem Selbstmord ihres Vaters in einfache Arbeitsverhältnisse geworfen, bewährt sich, verliebt sich in einen verheirateten Mann und kämpft jahrelang verzweifelt um ihn. Für ihre Unterleibsschmerzen erhält sie Betäubungsmittel und kommt nie mehr davon los. 
Ähnlich Anita Dernburg, eine „an sich selbst irre gewordene Frau“. Aus einer kurios zerrütteten Familie heraus heiratet sie, wird in der Hochzeitsnacht von ihrem Mann angesteckt und verliert im dritten Monat Kind und Gesundheit. Morphium lindert zunächst ihr Leiden, das sich fortan in Beschaffungskriminalität und zigfachem Entzug ohne Hoffnung fortsetzt.

Das unerwünschte Kind
Neben all der Tragik, die eine Frau in dieser Zeit ausgesetzt ist, gibt es doch „eine Krankheit, die ist bitterer als der immer noch unerforschte Krebs, schlimmer als eine Infektion, furchtbarer als alle Seuchen. (…) Sie leiden an ihrer fruchtbaren Frauennatur. (…) Ihr Leiden (…) ist die wahre grauenvolle, schrecklichste, mörderischste Krankheit der Zeit: Das unerwünschte Kinde“ (Frauen, 62 f.). Drastische Worte, aber ebenso drastische Schicksale.
„Der Fall Irmgard König ist kein interessanter, kein merkwürdiger Fall“ – da „gibt‘s nichts nachzuforschen und zu befragen“ (Frauen 68), nur eine Frau die unehelich ein Kind austrägt und den fast nicht zu gewinnenden Kampf gegen Konvention und Gesellschaft einer Alleinerziehenden führt. Eine höhere Tochter, die sich (vermutlich) in einen vom Mechaniker zum Mercedes Rennfahrer Aufgestiegenen verliebt, der bei einem „Alpenrennen“ verunglückt. Vater, Mutter, Brüder, Freunde – alle distanzieren sich zu der in Schande schwanger Gewordenen. Sie muss Tag und Nacht für ihr Auskommen sorgen, bringt das Kind allein zur Welt, arbeitet als schlecht bezahlte Verkäuferin und ist der Doppelbelastung ohne jegliche Unterstützung kaum gewachsen, müde und voller Sorge um die Zukunft …
Unter die Kategorie „Wieviele Leben werden durch (…) die Leiden einer verborgenen und (…) abgetanen Mutterschaft ein für alle Mal zerstört“ (Frauen 68) fallen eine anonyme Honoratioren Tochter und Gertrud Werner. Die erste zwingt ihren Körper in ein Korsett, verbirgt die Schwangerschaft aus Angst vor ihrer stadtbekannten Familie erfolgreich bis zur Geburt, gibt das Kind in Pflege und wird nach der heimlichen Entbindung von dieser Strapaze schwer krank. Bei der zweiten arrangiert der Vater für die schwanger gewordene Tochter eine Zwangsehe – Vermeidung der Schande. Die Ehe wird nach einem Jahr geschieden, die Tochter entwickelt eine unterwürfige Dankbarkeit gegenüber ihrem Vater und führt ihr Leben nur noch für ihn. Ihr eigenes Kind entwickelt sich in dieser Umgebung zur psychosomatischen Patientin. Bei einer dritten führt die gewöhnliche Gesellschaftsehe zu einer verborgenen Sehnsucht, die sie schließlich mit dem Bruder ihres Mannes auslebt. Sie zieht für sich und das entstehende Leben die traurige Konsequenz und erschießt sich.
An dem Ideal der „Mutterschaft“ zu zweifeln, bedeutete in dieser Zeit „Revolution“ (Frauen 76). Der ältere Professor heiratet seine 20 Jahre jüngere ambitionierte wissenschaftliche Mitarbeiterin. Als Ehefrau fügt sie sich nur unwillig in die für sie vorgesehene häusliche Rolle. Als sie schwanger wird gilt sie ihrem Mann nur noch als Mutter. Zwei Welten prallen aufeinander. Unbewusst sabotiert sie die Schwangerschaft durch übermäßigen Sport. Nach der Frühgeburt erkrankt sie schwer. Als man ihr nach Besserung das Kind bringen wollte, brach sie beim Anblick in wildes Gelächter aus. „Und so lachte sie noch, als man sie in die geschlossene Anstalt brachte …“ (Frauen 79).
Das „Männergesetz“ übt den „Zwang“ aus, „unerwünschtes Leben zur Welt zu bringen“ (Frauen 83 f.) – das ist schlicht „unmoralisch“. Jede Frau, die ihre Schwangerschaft nicht austragen will, trägt einen harten Konflikt „mit sich selber“ aus, nicht mit dem Gesetz. Doch genau dieses steht einem moralischen Handeln im Weg.
Anna M., eine „überschlanke, zwanzigjährige Blondine“ „arbeitete in einem Friseurgeschäft.“ Nach der ersten Geburt hat sie dauerhaft erhebliche gesundheitliche Probleme. Trotzdem bleibt sie berufstätig. Bei der zweiten Schwangerschaft zeigt sich bei der Unterernährten eine Tuberkulose – sie ersucht um Hilfe, eine Abtreibung. „Der Fall war klar. Eine akute Gefahr durch die Krankheit erlaubte den Eingriff aus medizinischen Gründen“ (Frauen 86). Schon nicht mehr eindeutig ist es bei „Lore“. Von einem Verkäufer-Kollegen schwanger tritt ihre angeborene Herzschwäche deutlich hervor. Ihren Job würde sie verlieren, wenn ihr Umstand bekannt würde. Eine soziale Indikation zählte nicht – ist die Schwangerschaft sicher eine Gefahr für ihr Leben? Else Kienle entscheidet für die „gemischte Indikation“ mit dem Schwerpunkt auf die medizinische. 
Auch bei Frau Dreyer ist die Indikation juristisch zweifelhaft. Mit ihrem Mann zusammen betreibt sie einen Bäckerladen. Zudem bewirtschaften sie einige Weinberge. Die Familie hat bereits drei Kinder und die Arbeit war auch so kaum für die Frau zu bewältigen, da schwellen ihre Beine an – „ein altes Nierenleiden2 (Frauen 91) – und ihre Blutung bleibt aus. „So beschloß sie, um der Lebenden willen auf das Ungeborene zu verzichten. Sie empfand es nicht nur als ihr Recht, sondern ausdrücklich als ihre notwendige Pflicht“.
Dann die Fälle, in denen die Frauen mit einem so „unerschütterlichen Entschluß“ kommen, „daß man sie im Falle einer Ablehnung der Pfuscherei wissend in die Arme“ (Frauen 98 ff.) treiben würde. Oft haben sie schon einen Selbstversuch hinter sich, bevor sie sich in die Praxis trauen: 
Das „Dienstmädchen Rosa“ kam vom Land in die Stadt, erlebt einen wunderschönen Abend auf dem Volksfest und lässt ohne „Widerstand“ mehr mit sich machen. Von dem jungen Mann weiß sie nicht einmal den Namen. Ihre Stellung wäre sie beim Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft los und der Armut preisgegeben, weshalb sie einer „heimlichen Helferin“ viel Geld bezahlt und die furchtbaren Schmerzen durch die eingespritzte Seifenlösung erträgt. Als die Blutungen nach einiger Zeit immer stärker werden, sucht sie echte Hilfe bei der Ärztin. Für die Frau eine tiefe Verstrickung in Leid, für den Mann ein vergessener Augenblick. 
Erna Kroll
stammt aus einfachen Verhältnissen, bereits jung ohne Eltern und Verwandtschaft bestreitet das „flinke Mädchen“ ihren Lebensunterhalt als Kellnerin. Ein Jahr lang ist sie das „‘Verhältnis‘ eines Kaufmanns“. Die Schwangerschaft wird zuerst von ihm begrüßt, doch dann bietet sich die Gelegenheit für eine standesgemäße Heirat. Als sie versucht ihn an sich zu binden wird er grob und verleugnet sie. Enttäuscht weiß sie, dass sie „das Kind nicht lieben können“ wird und entschließt sich, das Kind nicht auszutragen. Ein Mechaniker mit „plumper Laienhand“ stößt ihr „irgendein langes Instrument in den Leib“ „ohne Kenntnis von der Lage der weiblichen Organe“. 
Auch die „brave Frau alten Schlages“ wie Emma Molte kann es treffen. Die einst „hochmütige Schönheit“ hatte ihr Herz einem Bauersohn geschenkt, den sie nicht heiraten konnte, und so blieb sie allein und betrieb ohne jemals einem Mann eine Chance zu geben eine kleine Pension in Stuttgart. Als die einstige Liebe dann nach über 20 Jahren vor ihr steht, gibt sie sich dem Traum hin. Am nächsten Tag stellt er ihr seine Braut vor – die Blase zerplatz. Das Ergebnis dieser einen Nacht, ein Kind, will sie nicht und lässt abtreiben. Medizinisch ließ sich bei der Erstgeburt einer über Vierzigjährigen der Abbruch rechtfertigen, der Grund war es nicht. 
Und schließlich Lucie, ein Fall von „Blutschande“. Ihr Vater war der Typ von Trinker, der seine Frau im Suff schlug und vergewaltigte. Als diese sich eines Abends verbarrikadierte, vergriff er sich an seiner Tochter, die von ihrer wütenden Mutter nicht mehr rechtzeitig gerettet werden konnte. In der Sprechstunde verlangen Mutter und Tochter „die Beseitigung des schmachvoll aufgezwungenen Kindes“. Dieses Verbrechen wird aufgrund der Patientenkartei vor Gericht kommen, doch Else Kienle fragt zu Recht: Was hatte das Leid dieser beiden Frauen noch mit Paragraphen zu tun? Ihre Schuld war nicht die ihre.“
Schließlich schildert die Ärztin noch zwei besondere Fälle. Hanna, eine „junge, begabte Musikerin“ (Frauen 122 ff.) lebt mit ihrem Künstler-Freund in einem „kleinen Atelier hoch oben zwischen den Böden“. In den wirtschaftlich schweren Jahren nach dem Black Friday wird der Lebensunterhalt für beide immer schwieriger und verlangt beiden alles ab, besonders von Hanna, deren Herzleiden sich durch die harten Jahre verstärkt. Eines Abends trifft der junge Mann seine Frau in Fieber und Schmerzen an. Heimlich, um ihn nicht zu belasten, hat sie in eigener Verantwortung ihr gemeinsames Kind mit eingespritztem Desinfektionsmittel „Lysol“ abgetrieben. Ihr geschwächter Körper überlebt das Gift nicht. 
Und die „Proletarierin“ (Frauen 127 ff.)  Frau Rahmer , die als „Mutter von elf Kindern sich gegen das Austragen einer zwölften Schwangerschaft“ wehrte. Ihr Mann ist arbeitslos, die „Kinder wimmelten in der winzigen Wohnung durcheinander“. Beim zehnten schenkte der Lehrer-Pate einen Silberlöffel, doch „was gab es denn für den kleinen Wilhelm auszulöffeln“? Ein Arzt verweigert ihr die Indikation zur Abtreibung. Das Gesetz sagte, sie „mußte gebären“, obwohl ihr Körper völlig ausgemergelt, aber eben nicht objektiv krank war. Also musste es die „rostige Spritze“ mit „Seifenlösung“ sein. Danach „zitterte sie unter Fieberschauern und zuckte halb verblutet in furchtbaren Schmerzen“ vor den Augen ihrer Kinder. Ob der unbändige Wille dieser „siech“ gewordenen Frau den Untersuchungsrichter „nachdenklich machen würde“? 

Viele Schicksale, ich weiß, von der Ärztin einfühlsam ausgeschmückt und geschickt mit den Botschaften verwoben, die sie für die Frauenrechte aussenden will. Es lohnt sich wirklich, alles im Original zu lesen. Hier habe ich die „Fälle“ trotzdem so ausführlich aufgenommen,  weil die Geschichten repräsentativ für das Leben der Frauen im Stuttgart der ausgehenden 20er Jahre stehen. Und sie sind schlicht interessant und anrührend.

Der unmenschliche Prozess
„Berghoch getürmt liegen die Akten auf dem Tisch des Untersuchungsrichters, ein willkürlich gesetzlich errichtetes Gebäude von Frauenleid und Frauennot“ (Frauen 155).
Else Kienles Patientenkartei wird von der Kriminalpolizei und dem Untersuchungsrichter während der 6-wöchigen Haft akribisch durchgearbeitet und Anhaltspunkte für illegale Handlungen gesucht. Vermutlich hatte die Ärztin um die 200 Abtreibungen vorgenommen, 50-60 der Patientinnen wurden durch Friedrich Wolf, einem in Stuttgart sehr prominenten Kollegen und Mitstreiter für die Abschaffung des § 218, als Gutachter beurteilt oder von ihm überwiesen. Wolf wurde ebenso wie Kienle verhaftet und angeklagt.
Die Ärztin steht nun einem Juristen gegenüber, das weibliche Mitgefühl der männlichen Härte, die Frau dem von Männern gemachten Gesetz.  Sie schildert den Richter als unverständigen Mann, der sich hinter einer undurchdringlichen „Berufsmaske“ verbirgt. Er mahnte platt die „Volksgesundheit“ (Frauen 69) an und „appellierte (…) an das Verantwortungsgefühl“ (Frauen 96). Seine klare „Vorstellung“ war, dass ein Arzt die bedingungslose Pflicht habe, „das menschliche Leben zu schützen“ (Frauen 96). Eine simple und schematische Auffassung, wogegen die komplexen Fälle zeigen, dass es „eine Reihe bitterer Gewissensfragen“ (Frauen 97) gibt, denen man sich als Mensch und Arzt zu stellen hat.
Die Verhaftete versucht „den Untersuchungsrichter nicht einfach als bösen Feind“ (Frauen 69) zu sehen, sondern ihm die Augen zu öffnen für das „Geschlechtsschicksal“ der Frauen und ihr „schweres Dasein zu bezeugen“ (Frauen 25), „über deren Leid kein Gericht der Welt urteilen kann“ (Frauen 22). Zum Ende hin klagt Else Kienle ihn an: „Spürt denn dieser Mann mit dem unbewegten dienstlichen Gesicht nicht, welche ungeheuerliche Kluft zwischen seinen kalten Bestimmungen und dem blutenden Leben in diesen Aufzeichnungen steht“ (Frauen 112 f.)?
In den 6 Wochen wird unermüdlich bei den mitverdächtigten Frauen „nachgeforscht, ob und wie und warum ein Abortus zustande gekommen ist. Und ihre Leiden und Verwirrungen (…) werden dann in vielstündigen Verhören wiederholt, vertieft, ohne Gnade ans Licht des vollen Bewußtseins gezerrt“ (Frauen 96). Der ermittelnde Kommissar „hatte mit allen Frauen und Mädchen gesprochen (…) Und in jedem Fall wirkt sich das Auftreten des Kommissars schreckensvoll aus“ (Frauen 87). Es ist nicht schwer vorstellbar, dass der Beamte ohne Mitleid sensible Details bei den betroffenen Frauen erfragt und die Angst vor Verfolgung und Verurteilung schürte. Auch in dieser Hinsicht war es unmenschlich, wie der Prozess geführt wurde.
Ist es Else Kienle gelungen, Richter und Kommissar sowohl von ihrer Unschuld als auch dem Recht der Frauen auf Abtreibung zu überzeugen? – Die Untersuchungshaft endet nach einem Hungerstreik durch einen Beschluss der „Haftunfähigkeit“. Nach der vorübergehenden Entlassung kommt der Fall in Stuttgart nicht zur Verhandlung. Else Kienle und Friedrich Wolf werden von der Bewegung gegen den § 218 als prominenteste Mitstreiter akquiriert, treten bei vielen Veranstaltungen auf, deren Gipfel vielleicht die Rede der beiden im Berliner Sportpalast am 15. April 1931 vor mehr als 10.000 Menschen ist. Sensationell. Davon gibt es übrigens eine ausführliche Dokumentation, sogar in Form eines „Spitzelberichts“ (Friedrich Wolf 233 ff.) Leider schwenkte der Zeitgeist nur wenig später in die gegenteilige Richtung um.

 
§ 218

Zum vertieften Verständnis ist es hilfreich zu wissen, wie sich die Gesetzeslage damals gestaltete. Abtreibung steht seit 1871 mit den Paragraph 218 ff. unter Strafe von bis zu fünf Jahren Zuchthaus, sowohl für die Schwangere wie auch für Durchführende und Beihilfe. Eine Novellierung von 1926 flexibilisiert das Strafmaß und mildert auf eine Gefängnisstrafe ab. Nach einem Gerichtsurteil von Anfang 1927 wurde die medizinische Indikation – Gefährdung der Gesundheit der Mutter – als Ausnahme bestätigt. Nicht gültig war eine sogenannte „gemischte Indikation“ oder die reine soziale Indikation (Frauen 157).
„Diese Patienten bringen den Arzt in schwerste Gewissensnot. Was soll er tun? Das Gesetz ist zu eng. Der Wille jeder einzelnenn Frau ist doch stärker und setzt sich darüber hinweg“ (Frauen, 98). „Solange das soziale Moment nicht als gleichberechtigter Unterbrechungsgrund angesehen wird, werden die willkürlichen Strafanzeigen nicht aufhören“ (Frauen 115).

Immer wieder gibt es Prozesse gegen Frauen, Hebammen, Engelmacherinnen und Ärzte in diesen Jahren. Sieht man jedoch auf die realen Zahlen an überwiegend illegalen Abbrüchen, die zu vermuten sind, wurde das Gesetz nur in den aller seltensten Fällen und damit letztlich willkürlich angewandt. Mit ihren Ausführungen trifft Else Kienle deshalb genau die richtigen Punkte:
„Nach Schätzungen der besten Kenner aber werden jährlich in Deutschland zwischen dreißig und fünfzig Prozent der Leibesfrüchte abgetrieben. Oder noch mehr … Das ist die Wahrheit“ (Frauen 117). „Das heute geltende Gesetz wird (…) in Millionen von Fällen umgangen. Es besteht gegen den Willen der von ihm Betroffenen. Ein solches Gesetz wird sich auf Dauer nicht halten können“ (Frauen 116).
Es ist ein Gesetz gegen die Menschen- und Frauenwürde. „Der Gebärzwang bedeutet ein infames Vergehen gegen die allereinfachsten Menschenrechte, der Mutter wie des Kindes“ (Frauen 81), solange nicht gleichzeitig die „einfache Lebensmöglichkeit gewährleistet“ ist.
Denn die Frage, ob „es erlaubt ist, in diese Welt ein unschuldiges Leben ungefragt hineinzustellen“ (Frauen 131), war angesichts der Armut und des Leides vieler Menschen in dieser Zeit genauso berechtigt wie auch heute.
Eine wirkliche „Gleichberechtigung der Frau“, von der in den Zwanzigern so viel die Rede war, ist erst dann erreicht, wenn sich die Sexualmoral ändert und „die Eroberung des Rechtes über den eigenen Körper“ stattgefunden hat. „So wenig es für den Mann einen Zwang zur Zeugung gab, so wenig durfte die Frau zum Gebären gezwungen werden“ (Frauen 153). Denn: „Was nützt ihr das Stimmrecht, wenn sie trotzdem eine willenlose Gebärmaschine bleiben sollte?“
Bis heute ist der Paragraph umstritten und nicht abgeschafft, wenngleich die Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei bleibt unter bestimmten Voraussetzungen.
Else Kienle sah die Lösung sowohl in der grundsätzlichen Abschaffung wie auch in der konsequenten Förderung der Verhütung, damit es gar nicht zur Abtreibung kommen muss. „Ich bin (…) wie jeder fühlende Mensch Gegner der sogenannten Abtreibung, hingegen Anhänger der Geburtenregelung“ (Kienle, Weltbühne). Ziel muss es sein, „die Abtreibung durch wirksame Vorbeugung unnötig zu machen“ (Frauen 145). Denn der Eingriff und die Entscheidung gegen ein Kind bleibt nie ohne Auswirkungen. „Jede Frau, die ihr Kind nicht austragen will, aus welchen Gründen auch immer, behält in der Tiefe ihres Bewußtseins ein Gefühl dafür, daß sie in den natürlichen Lauf der Entwicklung eingreift. Sie empfindet das als dunkle, schicksalhafte Not und Verstrickung. Manchmal wohl auch als bittere, unentrinnbare Schuld“ (Frauen 63).

Deshalb sind „jene Pragraphen, die den Vertrieb vorbeugender Schutzmittel einengen und behindern“ (Frauen 145), fast noch verwerflicher als der Abtreibungsparagraph.
Else Kienle weist darauf hin, dass Ärzte, die in Prozessen bei proletarischen Frauen mit eigentlich rein sozialer Indikation, aufgrund des Verweises auf eugenische und volksgesundheitliche Gründe freigesprochen wurden. Eine Andeutung dessen, was nach 1933 kommen würde.

Die Abenteuer der Ärztin

Beim Leben von Else Kienle kann ich mich etwas kürzer fassen, was zwar ungewöhnlich war und spannend geschildert ist (gerne selbst lesen!), sich aber trotzdem gut zusammenfassen lässt. Außerdem liegt mit Fokus auf der Zeit bis 1933.
Geboren ist sie 1900 in dem zehntausend Einwohner zählenden württembergischen Städtchen Heidenheim, gestorben als Else K. LaRoe 1970 in New York – 1957 erscheint die Autobiographie „Woman Surgeon“, in Deutsch erst 1968 unter dem Titel „Mit Skalpell und Nadel. Das abenteuerliche Leben einer Chirurgin“. Kinder hatte sie keine, verheiratet war sie vier Mal.

Das Selbstnarrativ
Durch alle Erzählungen hindurch ziehen sich mehrere Leitmotive: der Wille zur Ärztin der wiederherstellenden oder (heute) plastischen Chirurgie zu werden, das große Mitgefühl für die Leiden ihrer PatientInnen und die aktiv zupackende, praktische Art, welche die Umstände oft entscheidend verändert. Was sich kaum bis gar nicht findet, sind selbstkritische Reflexionen, der Glaube an Zufall oder der Beitrag von anderen zu ihrem Erfolg. Vielleicht typisch für eine Frauenkarriere in dieser Zeit, die Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen brauchte und das eigene Selbstbild prägte. 
In der Stuttgarter Zeit (1924-1931) war sie laut Riepl-Schmidt (Frauen 157 ff.) als Frau bekannt, die sich modisch kleidete („Hüte so auslandend wie Wagenräder“), Tennis spielte und schnelle Autos fuhr. Andererseits bezeugt ihr gut dokumentiertes Handeln für die leidenden Frauen Stuttgarts ihr großes Herz und aktive Tatkraft für die Nöte der Zeit, weshalb ich diesen Aspekt für sehr glaubwürdig und stimmig halte.

Ungewöhnliche Frauenkarriere
In der Familiengeschichte von Else gab es bedeutende Ärzte wie z.B. ihren Urgroßvater Albert Zeller (1804–1877), der die Heilanstalt Winnental für Geisteskranke in Winnenden geleitet hatte. Prägend war ihr Großonkel Dr. Albert, bei dem sie bereits als Mädchen heimlich in der Praxis alles beobachtet. Es war allerdings für ihren Vater als Lehrer und die Gesellschaft schlechthin „undenkbar, daß eine Tochter aus gutem Hause einen Beruf ergriff, vom Medizinstudium ganz zu schweigen. (…) Da ich Ärztin werden wollte, mußte ich zuerst Rebellin werden“ (Skalpell 25).
Sie nimmt die Stufen zum Abitur (Bad Mergentheim und Esslingen) trotz der Kriegszeit mit Bravour. Die Leiden von Kriegsversehrten bestärken sie darin, sich in diesem Gebiet zu betätigen. Nach viel Überredungskunst und der Hilfe ihrer Großmutter (die sie zuvor raffiniert überzeugt hat) beginnt sie 1918 direkt nach Kriegsende das Medizinstudium in Tübingen. Darauf folgen Stationen in Kiel, Heidelberg und vielleicht München. Während die wenigen Mitkommilitoninnen „kein anderes Ziel kannten“, als sich einen Mann zu angeln, zog sie von kleineren Schwärmereien für ihre Lehrprofessoren abgesehen und einem Urlaubflirt eisern durch. Mit der Promotion 1924 ist sie als Vierundzwanzigjährige fertig. 
Interessant ein Exkurs zur Geisteshaltung, die sie übrigens nicht teilte: „Wissenschaft (…) war der Gott der damaligen Medizin, und wer sich zu dem Glauben bekannte, das Geistige sei mehr als eine Funktion der grauen Hirnzellen, der huldigte dem Mystizismus oder, noch schlimmer, dem Aberglauben und damit gefährlichem Unsinn“ (Skalpell 69 f.). Else Kienle ist mehr davon überzeugt, dass „jede Krankheit den ganzen Menschen betrifft“ (Skalpell 90), wozu Seele, Geist und Körper gehören.
Die ausgebildete Chirurgin muss feststellen, dass kein männlicher Kollege in dieser Fachrichtung gewillt ist, eine Frau als Assistenzärztin zu akzeptieren. Von der zermürbenden Suche entmutigt, ergreift sie die einzige Möglichkeit und nimmt eine Stelle in Stuttgart am Städtischen Krankhaus an – die Abteilung für Dermatologie und Geschlechtskrankheiten am Katharinenhospital, in der sie für 3 Jahre reichlich Begegnung mit den leidendsten Frauen und schwierigsten Kollegen hat. 

Gemäß der Abfolge in Else Kienles Autobiographie lernt sie im Frühling 1928 Stefan Jakobowitz (1886–1946), den Inhaber der Württ. Privatbank, kennen und heiratet den vierfachen Vater nach seiner Scheidung am 27. Juli 1929. In der Selbstdarstellung heißt er „Stefan Arnold“ und war ein „unverheirateter Mann“. Die Biographien geben an, dass er ihr die 1928 eröffnete Privatpraxis finanziert habe und auch Else spricht davon, dass ihr Mann vor der Hochzeit von ihr verlangte, in der Klinik zu kündigen, und ihr half, „ein kleines Privatsanatorium am Rande von Stuttgart zu eröffnen (Skalpell 126). De facto gab es die Praxis (s. Anzeige oben) in der Marienstraße 25 – also im Stuttgarter Zentrum – bereits seit Ende 1927, noch unter ihrem Mädchennamen. 
Wie auch immer …
Da Else Kienle aufgrund ihres Mitleids mit den Stuttgarter Frauen auch Abtreibungen in ihrer Praxis vornimmt – im Prozess ist von 210 Fällen die Rede –, wird sie Ende 1930 denunziert und am 20. Februar 1931 verhaftet wie auch ihr Kollege Friedrich Wolf. Während dieser auf Kaution frei kommt und in Stuttgart eine Protestwelle lostritt, muss sich Else Jakobowitz durch einen Hungerstreik nach 6 Wochen aus der Haft befreien.
Folgt man den Dokumenten über Friedrich Wolf hat ihr Mann aufgrund der Haft sofort die Scheidung eingereicht (Wolf 230). In ihrer Selbsterzählung lag der Grund für die Trennung in seinen Verbindungen zum Naziregime, die sie sehr ausführlich (Skalpell 147 ff. und 179 ff.) und vermutlich frei erfunden schildert. Ebenso unhistorisch ist die Reise nach „Astrachan“, wo sie bei einer Pestepidemie hilft und versehentlich fast zum Tode verurteilt wird. Gut belegt dagegen ist eine Reise gemeinsam mit Friedrich Wolf im Mai 1931 nach Moskau auf Einladung der sowjetischen Ärzteorganisation. Nach ihrer Rückkehr eröffnet sie für kurze Zeit eine Praxis in Frankfurt, muss wegen einer erneuten Anklage (vielleicht wegen eines Todesfalls nach einer Abtreibung) aus Deutschland fliehen. Bis weit in die Nazizeit wird sie steckbrieflich gesucht.
Mithilfe eines Amerikaners in Südfrankreich, den sie heiratet, gelangt sie in die USA und baut sich dort nach langen Anfangsschwierigkeiten eine zweite Karriere als plastische Chirurgin in Manhattan auf.
Als 1958 ihre Autobiographie veröffentlich wird, sind nur wenige Jahre seit der McCarthy-Ära vergangen. Es wundert also nicht, dass sie weder ihre Nähe zum Kommunismus in der Stuttgarter Zeit transparent machen wollte noch ihre klare und aktive Haltung zur Abtreibung. Beides hätte sie ihren Status gekostet. Warum sie deshalb Geschichten über eine angebliche Friedenspartei und die Epidemie erfinden musste, statt diese Punkte einfach weg zu lassen, bleibt mir rätselhaft. Vermutlich um sich reinzuwaschen, denn nach der sowjetischen Episode konstatiert sie gegenüber ihrem Mann, dass die „Moskauer Erlebnisse jeden Funken von Sympathie für die Bolschewiken“ in ihr „gelöscht“ (Skalpell 179) haben. Noch unverständlicher sind die wilden Erzählungen über sehr prominente Nationalsozialisten.

Abrechnung mit dem Nationalsozialismus
Göring, Goebbels, Hitler – allen ist Else Kienle/Jacobowitz persönlich begegnet. Mit Göring hatte sie nach ihren Angaben bereits zusammen in München studiert, Ausflüge unternommen und diskutiert. Einige Jahre später nähert sich Göbbels ihr auf einem Maskenball ungebührlich und macht ihr im Namen der Partei und als Mann unsittliche Angebote: „Wir wollen sie haben, und ich will Sie haben“ (Skalpell 160). Die Herren Göring und Goebels nebst den Frauen an ihrer Seite hat sie höchst selbst bei einer Jagdgesellschaft in der eigenen Hütte bewirtet. Klumpfuß, Morphiumsucht und schäbige Kleidung werden akribisch vermerkt, die Szenen detailgenau ausgemalt – und natürlich kommen sie alle peinlich schlecht dabei weg. Der Wunsch ihrem Mann zu zeigen, „was für kleine Geister sie in Wirklichkeit waren“ (Skalpell 181) ging in Erfüllung: Nach einem Jagdunfall von Göring wird seine Rauschgiftsucht offensichtlich. Voll Empörung reist er mit dem Gefolge ab.
Bei der politischen Einstellung der Nationalsozialisten war Else Kienle/Jacobowitz klar: „Frauen werden als erstes leiden. Darum sollten die Frauen eine Opposition bilden“ (Skalpell 150). Aus diesem Grund wird eine „Friedenspartei der deutschen Frauen“ gegründet wird. Angeblich füllte selbst „Magda Goebbels“ „ein Betrittsformular“ aus, obwohl der Gedanke sie „zu entsetzen“ schien (Skalpell 153). Bei mehreren ihrer Veranstaltungen für die Friedenspartei begegnet sie Hitler; einmal in einem Lokal, wo sie sich mit ihm unterhält. Ein anderes Mal kommt er aufs Podium und der ganze Saal – gerade noch friedensgestimmt – tobt und eine Frau schreit: „Mein Führer, ich habe drei Söhne. Wenn sie zur Wiederherstellung der Ehre Deutschlands beitragen können, nehmen Sie sie, nehmen Sie sie …“ „Kein Wunder, daß die Friedenspartei der deutschen Frauen an Boden verlor“ (Skalpell 198f.).
All das entbehrt nicht der Ironie, ist böser Sarkasmus – eine Abrechnung mit den Menschen, die ihr Leben in Deutschland zerstört haben. Insofern hat es einen Gehalt von Wahrheit. Nur ist es kein bisschen historisch und für eine Autobiographie ohne einen dezenten Hinweis – wie ich finde – ziemlich daneben.

Historische Qualität?
Eine ähnlich phantastische Geschichte ist die Begegnung mit Mata Hari in der Schweiz oder der unwahrscheinliche Zufall, dass ihr ehemals italienscher Verlobter mit bei der Jagdgesellschaft erschien. Das Leben kann verrückt sein. Hier klingt es nach konstruierter Erfindung.
Schmälern diese im Umfang nicht geringen fabulierten Anteile die Glaubwürdigkeit des Berichteten? – Für mich eindeutig: ja! Selbst bei den Frauenschicksalen, die ja in zeitlicher Nähe (1932) und nicht aus dem fernen Rückblick geschrieben sind, haben mich manche Details stutzig gemacht, so etwa der „Rennfahrer jenes großen Automobilwerkes“ (Frauen 66), der bei einem „Alpenrennen“ tödlich verunglückte. Tatsächlich gibt es selbst aus dieser Zeit akribische Listen von den Rennen zu Fahrern und Unfällen – ich konnte keinen entsprechenden Eintrag für die in Frage kommenden Jahre finden. Das muss nichts heißen.
Auch die Biographin Verena Steinecke bescheinigt Else Kienle einen „Hang zur pathetischen Idealisierung und Romantisierung“ (Rebellin 42), insbesondere das „abenteuerliche Leben einer Chirurgin“ (nur deutscher Untertitel!) sei „voll von Geschichten, die sich so nie zugetragen haben“.
Andererseits bleiben die Fakten zur Not der Frauen in Stuttgart und ihre Argumente zum § 218 absolut stimmig und gültig, selbst wenn manche Details ausgeschmückt sein sollten. Und Else Kienle hat durch historische Dokumente belegt weit mehr für die Frauen ihrer Zeit getan als sie für sich in den Büchern in Anspruch nimmt. Insofern bleibt unter dem Strich mehr als Hochachtung für ihr Werk. 

In nettes historisches Detail. Ihr erster Mann Stefan Jakobowitz (später, vielleicht auch ursprünglich Stephan Jakobowicz) musste wegen seiner jüdische Abstammung ebenfalls aus Deutschland fliehen. In den Pyrenäen traf er den Literaten Franz Werfel, der die gemeinsame Flucht und die Vorgeschichte von Jakobowitz in dem Bühenstück „Jacobowsky und der Oberst“ verarbeitet (siehe a. New York Times March 31, 1946, Page 46)

 

Kienle, Dr. Else: Frauen. Aus dem Tagebuch einer Ärztin, Schmetterling Verlag 1989 (1932)

LaRoe, Else K.: Mit Skalpell und Nadel. Das abenteuerliche Leben einer Chirurgin, Alber Müller Verlag 1968 (engl. Originalausgabe 1957).

Weitere Quellen:

Steinecke, Verena: Ich musste zuerst Rebellin werden. Trotz Bedrohung und Gefahr – das gute und wunderbare Leben der Ärztin Else Kienle, Schmetterling Verlag 1992.

von Soden, Kristine: Die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik 1919-1933, Druckhaus Hentrich 1988

Der Fall Kienle; von Else Kienle; in: Die Weltbühne 27-1 1931.

Schweigard, Jörg: Else Kienle, Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 245-248

Friedrich Wolf. Die Jahre in Stuttgart 1927-1933. Ein Beispiel; Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich, Landeshauptstadt Stuttgart 1983.

Die Bilder und Unterlagen zu Else Kienle sind von den Dokumenten aus „Friedrich Wolf“ (s.o.) abfotografiert. Sonstige Quellen: Katharinenhospital aus Zeitsprung (LINK)  und von Wiki (LINK); Klosterstraße aus der Stuttgarter Zeitung (LINK); Praxisanzeige von Else Kienle aus der Sammlung der Württembergischen Landesbibliothek (LINK);  Flugblatt zur Veranstaltung Kienle/Wolf am 28.03.1931 (LINK)

Links:

Else Kienle (Wiki)

 
Brigitte Reinhardt: Reinhold Nägele
Friedrich Wolf: Stuttgart
Verena Steinecke: Rebellin
Else K. LaRoe: Skalpell
Else Kienle: Frauen 1932
Die Neue Sachlichkeit
Ernst Toller: Quer
Söderström Phototagebuch
Clärenore Stinnes
Eugen Eberle
Volker Ullrich
Margarethe Ludendorff
Adolf Hölzel
Adolf Hölzel
Margarethe von Wrangell
Theordor Heuss: Erinnerungen 1905-1933
Rudolf Braune: Das Mädchen an der Orga Privat
Thomas Ziebula: Der rote Judas
Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland
Volker Weidermann: Das Buch der verbranten Bücher
Sebastian Haffner: Die Geschichte eines Deutschen
Sebastian Haffner: Von Bismarck bis Hitler
Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
Hans Fallada: Kleiner Mann - was nun?
Kurt Tucholsky: Literaturkritik
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